Rückblick


Rückblicke gab es nicht so viele, Ende letzten Jahres, vielleicht sind sie einfach erfolgreich an mir vorüber gezogen, worüber ich nicht böse bin. Trotzdem erscheint es auch für die eigene Hygiene nötig, nicht nur das letzte, sondern die letzten vier oder fünf Jahre anzusehen und die Inhalte zu suchen, und wir haben einen Diaprojektor dabei, eine Diashow ist doch schön.

Schön war es, für manche. Kurz war es halt leider auch, oder zum Glück. Für die anderen. Neue Erscheinungen sind aufgetreten, die es bisher so nicht gab. Wir wurden um eine neue, hübsche Farbe bereichert, die ist in vielerlei Formen aufgetaucht, auch in Socken, weil mit dem Respekt hat es sich aufgehört, es wurden Schuhe ausgezogen, nicht nur uns. Wenn wir uns nun mit Punkt eins, den Inhalten, aufhalten, müssen wir uns nicht lange aufhalten und gehen zum nächsten Punkt, denn bei Punkt eins war nichts.

Kommen wir zu Punkt zwei, zur Scheinbarkeit, und Punkt drei, zur vermeintlichen Unersetzlichkeit. Diese beiden gehören untrennbar zusammen, zumindest in den letzten Jahren. Werfen wir also das erste Bild an die Wand. Es ist ein älteres Bild, aufgenommen bei den Dreharbeiten zur Piefke-Saga, damals zu Beginn der 1990er Jahre. Da finden wir unter dem hübschen, weichen, grünen Moos des Waldes Müll. Müll als Basis. Für alles. Müll war und ist in unserem Land nicht die Basis, darum geht es dem Land auch nach wie vor gut, aber es wäre gerne unter den grünen und blühenden Matten des Wohlstands und dessen Scheins gerne ordentlich Müll vergraben worden, wenn, ja wenn da nicht jemand ein wenig genauer nachgeschaut hätte. 

Wir kommen zum nächsten Bild. Es ist das Dia eines potemkinschen Dorfes. Fassaden, die schlampig zusammengezimmert in der Gegend herumstehen, mit ein paar sauber asphaltierten Strassen dazwischen, auf denen sich Leute bewegen, in Mikrofone und Kameras reden und erklären, dass alles neu werden muss, was sich verblüffend bewahrheiten sollte. Ein Teil der Dorfbevölkerung jubelt, obwohl schon zu Beginn ein paar Fassaden umgekippt sind, an denen sich ein paar angelehnt hatten. Schnell haben sie diese wieder aufgestellt. Immer wieder sind welche umgekippt, immer neue, während eine wieder aufgerichtet wurde, ist schon die nächste gefallen, sie sind mit dem Wiederaufstellen gar nicht mehr nachgekommen. Hinter den Fassaden war schon ordentlich viel Mist, und sie haben gedacht, wenn die Bretterwände stehen, sieht man das alles nicht, dabei haben sie die Fassaden so nachlässig gebaut, dass sie vor lauter Eile nicht einmal wenigstens einen halben Meter um die Ecken dazugezimmert haben, sondern einfach nur die flachen Wände mit schrägen Stützen, also war quasi alles ohnehin einsehbar, schon in einem flachen Winkel, und trotzdem haben sie geglaubt, dass nichts zu sehen ist. Viele Menschen haben das ganze Theater ungläubig beobachtet, sie haben die Zimmerleute vom Dorf gefragt, ob sie denn nicht sehen würden, dass so kein Dorf zu bauen ist, aber sie haben das nicht sehen wollen, denke ich, weil die neuen Architekten, die gar keine waren, gesagt haben, dass es nur so funktionieren würde, wie das auch immer aussehen sollte.

Wie ein Märchen vielleicht. Gehen wir zu den Gebrüdern Grimm, das Bild stammt aus einem Märchenbuch. Da steht ein nackter Mann unter einem Baldachin, und ein Kind ruft: Der Mann hat ja gar nichts an! Die vermeintlichen Schneider sind längst verschwunden. Unsere Architekten, die eigentlich Schneider sind oder was weiß ich was, das weiß niemand ganz genau, sind auch längst weg, von einer Familie in eine andere. Und nun, könnte man meinen, wäre die ganze Geschichte wieder vorbei, drüber mit den Grasmatten und basta, aber das ist sie mitnichten. Denn der Mann ohne Kleider steht ja immer noch da, der Mann ist im Grunde ganz viele Leute, die so tun, als wäre alles normal gelaufen, ein paar hätten sich einfach ein wenig verirrt und sind nun ohnehin weg, und mit ein wenig Zauberei geht die ganze Sache stinknormal weiter. Was sie dabei vergessen: sie stehen eben ohne Kleider da, immer noch, oder zumindest mit ziemlich wenigen, man könnte sagen, sie befinden sich in Unterwäsche.

Das ist, was Haltung betrifft, nicht so richtig viel, von Stil wäre hier auch nicht angebracht die Rede, aber zusammengefasst könnten die beiden Punkte Scheinbarkeit und Unersetzlichkeit wie folgt beschrieben werden: Guter Stil ist im Grunde ganz einfach an den Tag zu legen, indem man Haltung an den Tag legt. Jeden Tag, nicht nur manchmal oder heimlich, sondern jeden Tag. Wenn Scheinbarkeit die Haltung ersetzt, wird der Stil zur vermeintlichen Unersetzlichkeit. Und für unersetzlich hält sich lediglich, wer den Lauf der Zeit nicht begriffen hat, aus vielen Gründen, geringes Alter ist dafür keine Entschuldigung, zumal im Angesicht der Tatsache, dass die großfamiliäre Umgebung der gefallenen schneidernden Grünschnäbel aus teils altgedienten Haudegen besteht. Also wird munter weitergefunden, was in den letzten Jahren alles vorgefallen ist, und wir dürfen vorsichtig zuversichtlich sein, dass die Tiefpunkte noch gar nicht das Licht der Welt erblickt haben, auch wenn das gar nicht mehr möglich erscheint, aber da haben wir uns laufend getäuscht.

Diese Details müssen nicht ausgeführt werden, wir werden alles wohldosiert in den nächsten Monaten und Jahren vorgeführt bekommen, was einige Leute eher unruhig werden lassen sollte, die Ruhe trügt und verwundert. Wir sehen ein neues Bild: Wir sehen das Schlaraffenland von Pieter Breughel dem Älteren. Da liegen sie, mit vollgeschlagenen Bäuchen. Es ist einfach, wenn alles zu einem Selbstbedienungsladen wird, und interessanterweise läuft in diesem Land einiges in der verkehrten Reihenfolge ab: Es werden nicht Menschen ausgewählt, die sich in Tätigkeitsbereichen bewährt und außerhalb gemeinnütziger Funktionen – einst konnte Politik als so etwas bezeichnet werden – noch etwas anderes gesehen haben außer den eigenen Betriebsräumlichkeiten, um nun aufgrund ihrer Erfahrungen in die Verantwortung gehievt zu werden, um einem Gemeinwesen ihr Wissen und Können dienlich zu machen. Im Gegenteil: es werden Leute ausgesucht, die in höchsten staatlichen Funktionen Marketingexperimente durchführen, sich benehmen, als gäbe es kein Morgen, und in diesem vorprogrammierten Scheitern ein Land internationaler Lächerlichkeit preisgeben, um anschließend aus den so gemachten Erfahrungen Karrieren zu starten, deren Qualitäten und Tätigkeitsbereiche oft genug höchst bedenklich sind.

Was uns zum Bild befördert, das am meisten drückt: Es zeigt den Physiker Albert Einstein mit dem Zitat: “Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.” Bei aller Unvorhersehbarkeit, die uns die Covid-Pandemie seit knapp zwei Jahren am Tablett serviert, stellt ein Unterrichtsminister sicherheitshalber schon zum Jahreswechsel fest: die mündliche Matura wird völlig normal durchgeführt werden. Für einen Jahrgang, der von seiner Schulzeit bis zu diesem Termin, wenn alles gutgeht bis dorthin, trotzdem die Hälfte der dann letzten zweieinhalb Jahre daheim vor einem Computer verbracht haben wird. Es wird also von jenen, die mit Gewissheit als am gröbsten vernachlässigte Gruppe bezeichnet werden kann, verlangt, so zu funktionieren, als wäre alles ganz normal. Die zusätzlich zur enormen Belastung, zwei Jahre lang oft genug an einem Heute nicht gewusst zu haben, was morgen in ihrem (Schul-)Leben sein könnte, die sich mitansehen haben dürfen, wie an höchster Stelle von den Leuten, die das Gefüge lenken sollten, ein Verhalten über Jahre an den Tag gelegt wurde, das jeder Etikette Hohn spricht und jede Schülerin und jeden Schüler die Wände hochklettern lässt, wenn sie selbst zum Beispiel Betragensnoten wie etwa “Wenig zufriedenstellend” ins Zeugnis gestellt bekommen, weil sie unentschuldigte Fehlstunden vorweisen oder unangenehme Fragen gestellt haben. Denen zwei Jahre lang verwehrt wurde, dass ihre Schulgebäude so adaptiert werden, dass Unterricht stattfinden kann trotz einer Pandemie, während Tonnen von Geld mit Kanonen hinausgeschossen wurden, um Unternehmen zu stützen, die nun teils bessere Bilanzen aufweisen als je zuvor.

Diese Jugend ist von Dummheit nicht gefährdet. Die Dummheit resultiert aus der Verwahrlosung, die der Wohlstand zu vielen politischen Protagonisten übergestülpt hat. Mündliche Matura hin oder her: ehrt diese Jugend, streut ihr Rosen, aber düpiert sie nicht unentwegt. Jetzt ist der Diaprojektor kaputtgegangen, aber die Jugend braucht keine Gemälde, sie ist präsenter denn je, und ich fürchte und hoffe gleichzeitig für einige, dass sie nicht vergesslich sein wird.