Restland


Bei jeder Produktion bleibt ein Rest. Das lernt jedes Kind. Ob beim Plätzchenausstechen oder bei der Autoproduktion. Manchmal können die Reste verwertet werden, wie bei den Plätzchen (auch wenn dem Engel dann vielleicht ein Flügel fehlt) manchmal nicht, was hohe Müllberge anzeigen.

Doch Reste entstehen nicht nur bei der Produktion, sondern auch nach Kauf und Konsumtion. Die Metamorphose von der Ware zum Rest (von Manchen als Abfall tituliert) scheint schicksalhaft. Aber der „Rest“ birgt doch verborgenes Potential. Er kann sich beispielsweise mit anderen Resten zusammentun. Aus einem Rest kann so auch wieder ein Ganzes werden.

Zurück zu den Sperrmüllhaufen. Ordnungsgemäß aufgeschichtet und sachgemäß angemeldet geben sich dort kaputte Lampen, dreibeinige Stühle, abgeliebte Kuscheltiere und invalide Maschinen ein Stelldichein. Morgens noch streng in Reih und Glied, sind sie doch mittags meist schon quer über das Trottoir verteilt. Die Suche nach Brauchbarem ist nicht spurlos an der straffen Ordnung vorbeigegangen.

Der Philosoph und Literat Walter Benjamin sah im Lumpensammler gar ein revolutionäres Potential. Das von der Gesellschaft Verworfene, die Puppe ohne Arme, der Teddybär mit einem Auge, das aus der Mode gekommene Mobiliar, wird von ihm gerettet.

Gegenstände, die seine Benutzer*innen nur zu gerne möglichst schnell dem Orkus der Geschichte preisgeben wollen, werden von ihm dem Vergessen entrissen.

Das Verworfene und das Verdrängte (die neue Couchgarnitur verdrängt die Alte und wirft ihr beim Abtransport noch einen koketten Blick zu) wird zu Müll erklärt. Sein Typ ist nicht mehr gefragt und es folgt der Abtransport.

Neu entdeckt wird es, bei glücklicher Fügung, durch den Lumpensammler. Er spricht dem Ding (erneut) einen Wert zu. Die Ehrenrettung ist geglückt, da ihm nun wieder ein Platz im Warenkreislauf eingeräumt wird und mag es eine verranzte Hinterhofgarage sein.

Was Müll war, wird Rest oder sogar Ware und hat so seinen gesellschaftlichen Status in der Dingwelt neu errungen (story of success). Sein Advokat und Beistand ist dabei der Lumpensammler, der das Urteil traf, dass es sich keineswegs um Müll handelt, sondern um etwas, das man noch gebrauchen kann. Vielleicht steht er murmelnd vor besagtem einäugigen Bären und sagt: „Du bist doch nicht schlecht“. Der Bär strafft daraufhin die Schultern, reckt die Brust und es lässt sich ein stolzes Brummen vernehmen.

Das Auflesen von Verworfenen ruft Erinnerungen an die Kindheit wach: Steine sammeln, Muscheln sammeln, aber auch andere Dinge, die vielleicht von Erwachsenen als weniger appetitlich angesehen werden. Was Wert hat und was keinen, muss erst mühsam erlernt werden. Es gilt die Orientierung am Tauschwert, oder bestenfalls am Gebrauchswert, der Sammlerwert, der, wenn man nicht gerade im Kunsthandel tätig ist, doch auch sehr individuell angelegt sein kann, kann dann doch auch als irrational erscheinen.

Das Bild des Lumpensammlers ist wie die Bezeichnung wohl etwas veraltet. Man denkt an einen Mann mit Leiterwagen, der wohl heute eher durch Fahrrad oder Lieferwagen ersetzt wird. Als alternative Bezeichnung gelten vielleicht „Flaschensammler“ oder „Schrotti“, auch wenn das schon auf sehr spezifische Unterbereiche verweist.

In zeitgemäßer Anpassung wäre ein Start-up denkbar, das jede Unternehmung daraufhin untersucht, welche Art von Resten dort produziert werden. Von abgelegten Albträumen aus der therapeutischen Praxis bis zu zerbrochenen Sandschaufeln des Kindergartens, alles könnte unter der Zielsetzung betrachtet werden, es schließlich in den großen Kreislauf der Ding- und Gedankenwelt zurückzuführen. Oder letztlich, die Dinge und Gedanken gänzlich von der Last zu befreien, einen Nutzen zu haben.

Dass der Lumpensammler nicht unbedingt nur als Sympathieträger betrachtet wird, wird beispielsweise in dem Klassiker „Kinder des Olymp“ deutlich. Jericho, der den Weltuntergang schon im Namen trägt, hat seine Augen und Ohren überall, mischt sich in Dinge ein, bei denen er es lieber hätte bleiben lassen und ist nur auf seinen eigenen Gewinn aus. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob es sich nicht um ein antisemitisches Stereotyp handelt. Jericho, der keinem Ort zugehörig ist, ist der ewig Wandernde, der, wie gesagt, letztlich nur aufs Geld aus ist.

Der Mousonturm in Frankfurt am Main lud einmal dazu ein, gescheiterte Projekte vorzustellen. Ein Abend des Scheiterns oder so ähnlich. Auch hier war man der Sache auf der Spur. Die Utopie des Rests wirft ihre Schatten voraus.

Ein anderer Fall von verworfenen Resten sind Textreste, wobei sich der Gedanke aufdrängt, ob es sich hier bei diesem Text nicht genau um eben einen solchen handelt. Wie dem auch sei, getreu dem Motto eines großen Resteverwerters gilt auch hier: „The rest ist the best!“ und auch mit einem Flügel flattert es sich noch ganz trefflich! Ob Ding oder Text, wenn die monetäre Umsetzung nicht gelingt, wäre vielleicht ein Flächenland der Reste denkbar, in dem der hinkende Stuhl auf dem Rücken der eiernden Waschmaschine in den Sonnenuntergang reitet…

THE END

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