Von ersten und letzten Sätzen


An wem letztendlich diese Geschichte aufgrund des ersten Satzes scheitern könnte, wird nicht zu erfahren sein.“Er ist wegweisend: der erste Satz, der Romananfang! Denn er entscheidet darüber, ob das Buch, das Sie veröffentlichen möchten, gelesen wird oder nicht. Der Beginn Ihres Textes ist also Grundlage dafür, ob der Leser Ihre Geschichte mag oder nicht.” Nachdem hier nur die Leser und keine Leserinnen gemeint sind, vermute ich ausschließlich Autoren ohne Autorinnen hinter dieser Gebrauchsanweisung. Diesen Autoren dieser Sätze könnte zum Beispiel die Schuld am Scheitern gegeben werden, sie nennen sich Buchprofis, schwer zu erahnen, wie viele Menschen also bereits nach dem ersten Satz das Lesen eines Buches abbrechen aus dem simplen Grund eines fehlenden Wörtchens nur, der mit folgendem Beispiel erörtert wird: “Anton Schiller lebte allein” stellen sie “Anton Schiller lebte jetzt allein” als ungenügend gegenüber und hängen dem kleinen jetzt eine Bedeutung um, die das arme Wörtchen fast erdrosselt, weil nun der Leserschaft klargemacht wurde, dass der Autor so klug und ausgefuchst ist, mit nur fünf zarten Buchstaben zu erklären: Da war etwas vorher, das ich euch vielleicht im Zuge meines feinen Romans verrate, und die Leserschaft sticht vor Anspannung ihre Fingernägel mit dem ersten Satz in den weichen Samt des Lesestuhls. “An wem letztendlich diese Geschichte aufgrund des ersten Satzes scheitert, wird nicht zu erfahren sein” hätte ich zugegebenermaßen nicht zu den Favoriten eines Wettbewerbs für den schönsten ersten Satz gezählt, das wird aber auch kein Roman. Es war mir auch bis gerade eben gar nicht bekannt, dass dem schönsten ersten Satz ein Wettbewerb gewidmet wurde, sonst hieße der erste Satz dieses Textes womöglich ganz anders, auch wenn er tatsächlich sich um den ersten Satz generell dreht. Aber vielleicht wäre der Ehrgeiz ein größerer, ernsthafterer gewesen und ganz oben stünde nun zum Beispiel “Isabelle salbte nun nach” oder “Der ölige Regen plätscherte nun beinahe täglich aus den verseuchten Wolken”. Schriebe ich lediglich “Isabelle salbte nach”, wäre es den Buchprofis nach zu langweilig, aber bei der Sache mit dem Regen gibt es nichts zu bemängeln, meine ich. Ein nun steht auch dabei, also gibt es eine Vorgeschichte, warum die Wolken verseucht sind, das sind sie nicht einfach nur so.

“Für den Wettbewerb kamen alle in deutscher Sprache verfassten Romane und Erzählungen sowie Kinder- und Jugendliteratur in Frage. Besonderes Gewicht wurde bei diesem Wettbewerb auf die Begründung gelegt. Die Teilnehmer mussten erklären, welche Erwartungen der von ihnen gewählte erste Satz weckte und welche Stimmung er auslöste. Außerdem wurde gefragt, ob die Geschichte das hielt, was der erste Satz versprach.” Im Folgenden gibt es keine Versprechen, keine Ankündigungen, keine Drohungen. “In den letzten Wochen, schon vor meiner Ankunft in Paris, war ich auf der Suche nach einer Handlung für den Roman, den ich schreiben will: ein Abenteuerroman, wo eins aufs andere folgt, einfallsreich und voller Wunder.” So beginnt beispielsweise ein Roman von César Aira, Autor und Übersetzer aus Argentinien, der aus dem Englischen und Deutschen ins Spanische übersetzt, unter anderem Kafka. Zur Belohnung gibt es hier den zweiten Satz des Romans, der, gäbe es einen Wettbewerb für den besten zweiten Satz eines Romans und wäre César Airas Geschichte auf Deutsch geschrieben worden und nicht nur übersetzt, zum absoluten Titelfavoriten gehörte: “Bis jetzt ist mir nichts eingefallen, nur den Titel habe ich seit Jahren im Kopf und klammere mich an ihn mit der Hartnäckigkeit der Leere: “Die Schneiderin und der Wind”.” So lautet auch der Titel des Romans.

Beim Wettbewerb wurde der Preis der Erwachsenenliteratur gleichzeitig als Hauptpreis geführt, was der übrigen Literatur gegenüber nicht als korrekt empfunden werden kann, zumal der Satz “Entweder mache ich mir Sorgen oder etwas zu essen” einiges zu bieten hat, er errang den dritten Platz in der Kategorie Kinder- und Jugendliteratur. Keine Versprechen oder Ankündigungen zeichnen Geschichten, die es dann krachen lassen, doch viel mehr aus als heimlichtuerische Gesten, die erahnen lassen sollen, dass zum Beispiel schon etwas gewesen war, was ohnehin völlig logisch ist, und die Geschichte nichts davon hält und abstinkt. Geboren wurde in dem Sinn noch niemand im Erwachsenenalter, als dass jemand auf die Idee käme, dass vorher nichts gewesen sein kann, weil irgendwelche Flaschen aufgrund eines nicht vorhandenen jetzt im ersten Satz die Leserschaft für so blöd halten, dass sie annehmen könnte, dass vorher wirklich nichts war, Anton Schiller also das Licht der Welt erblickte und als erste Tätigkeit seines Daseins allein als Erwachsener zu leben pflegte. Sein Lebenslauf begänne also mit “Geboren am soundsovielten, alleinstehend”, davon geht doch niemand aus.

Aus “24 meisterhaften Romananfängen” möchte Beckett zitiert werden: “Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues”, aus “Murphy”. Dieser Satz ist höchst geeignet, eine Geschichte oder gar eine ganze Serie von Geschichten zu eröffnen, die in unserem Land auf politischer Ebene seit einiger Zeit erzählt werden, obwohl uns in unzähligen mündlich verkündeten Treatments versichert wurde, dass alles neu werden würde. Dieser Satz erscheint als besonders treffend, da er genau gar nichts verspricht, so ist die Erwartung entsprechend klein. Und gleichzeitig sprudeln aus der so begonnenen Geschichte alle paar Seiten, wenn wir die Tage in solche umwandeln, Plots und Ereignisse hervor, da sehr wohl wenn schon nichts Neues, so doch Besonderes geschieht, auch wenn nicht vorgesehen war, dass die Abgründe das Licht der Welt erblicken. Die Autoren dieser Geschichten haben das nicht vorhandene nun oder jetzt nicht nötig, bei dieser Geschichte wissen wir alle, was vorher war.

“Ilsebill salzte nach.” Günter Grass hat den Wettbewerb gewonnen mit dem ersten Satz aus dem Roman “Der Butt”. Die Buchprofis hätten ihm nicht einmal einen Blumentopf überreicht, “Ilsebill salzte nun jetzt also endlich nach” wäre eher nach ihrem Geschmack, obwohl nach genügte. Dass etwas gekocht sein worden muss steht auch so außer Frage. Was danach kommt muss aufregend sein, wenn schon zu Beginn gewürzt wird, so einfach kann sein, wofür andere wohl drei Zeilen brauchen oder eine Pressekonferenz. Drei Worte, die versichern, dass bereits etwas im Gange ist und mit dem Salz es wohl noch etwas zu essen geben wird, basta. Die Geschichte von Peter Pan von J.M. Barrie beginnt mit den Worten “Alle Kinder, bis auf einen, werden erwachsen”, der Rest ist quasi Geschichte. Ziehen wir die eine oder andere Parallele zu unserer Echtzeitgeschichte, stellen wir uns die Frage, wer Captain Hook sein könnte. Alle anderen außerhalb der Familie wahrscheinlich. Innerhalb der Familie, um eine kurze Inhaltsangabe zwischendurch zu geben, ist alles in Ordnung. Lediglich zuwiderhandelnde Faktoren stören das Idyll, Captain Hook ist überall und gemein, und sie würden ihm gerne den zweiten Arm und auch die Beine wegnehmen.

Selbst ist mir übrigens keine Isabelle bekannt, die Salbe aufträgt. Das habe ich aus rein opportunistischen Gründen und in blinder schlechter Nachahmung von Günter Grass abgeschaut, weil das in den letzten Jahren als erfolgreich zu beobachten war und immer noch ist. Vielleicht könnte die Geschichte von Wunden handeln, die versorgt werden müssen, wenn nicht, ist es auch egal, der Weg ist der Weg, das Ziel nicht von Interesse. Die Sonne scheint, wie bereits erwähnt, da sie – im Gegensatz zu uns – keine andere Wahl hatte, auf das immer Gleiche, das immer abstruser und verrückter wird, sodass womöglich Franz Kafkas erster Satz in der “Verwandlung”, “Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt”, tatsächlich eintreten könnte, betrachten wir einige Kapitel unserer banalen Echtzeitgeschichte. Ich halte mich derweil geduldig an den letzten Satz aus Zsuzsa Bánks Debütroman “Der Schwimmer”: “Ich kann warten, ja”.