Volksfrontal 51


Vom Volkshausbalkon KIG aus kann man schon die Übersicht behalten. Wie jeden Herbst. Der Blick gegen Südosten. Vom Balkon aus. Der Osten hat’s in sich diesen Herbst. Wenn Laibach nach Across the Universe sich nun The Sound Of Music annehmen, um einen Volksbegriff auszumachen, taucht der zeitgemäße Blick von Hollywood in der Alpenrepublik unter. Das Grazvolk steht ja ebenso am Berg, wenn Gorkis Nachtasyl sich in die Bergkatakomben des Uhrturmes zurückzieht. Die russische Intendantin des steirischen herbstes Ekaterina Degot programmiert ostentativ Größenordnungen, die funktional erscheinen. Das hat ihre Vorgängerin etwas westlicher eingepolt auch schon bewiesen. Ob nun die Front zwischen Cola und Allah eine Front wird, bleibt eine der wesentlichen Fragen, um ein Blöcke-Umdenken innerhalb der Old-School-Ost-/Westprinzipien. Die Kunst scheint da etwas hinterher und wenig utopisch – Donald Trump finanziert ja gerade eine überirdische Weltraumarmee. Auch wenn Science Fiction als Audioinstallation „HUM“ über die Dächer vom Hotel Daniel aus in die Stadt einsickert, wenn der SF-Lem-Klassiker „Solaris“ in der Tarkowski-Verfilmung von 1972 in Leoben wiederaufgeführt wird. Die „gefürchtete Russendisko“ ist nicht programmiert, dafür sehe ich deutlich die Neukreation der russischen Fahne vor dem inneren Auge. Diese hat der Künstler Laurin in Treporti vorgenommen. Und dann noch die vielen roten Sterne, die über einer computergenerierten Welt kreisen. War noch 89 der „Wir sind das Volk“-Slogan mit einer geraden Zielrichtung populär, so entdeckt man Spuren einer herannahenden Eiszeit von kaltem Blockdenken. Kein Eisblock ist besser als der andere – zerrinnen werden beide. Das Volk – oder besser gesagt „ein Volk“ – hat diesen unheimlich völkisch-nationalen Beigeschmack. Auch wenn man Devotionalien aus der Zeit des Nationalsozialismus containerweise abgeben und herbstlich entsorgen kann, bleibt zu hoffen, das diese „Volksvernichtung“ in eine Zukunft zielt, um nicht grabwütig in der Vergangenheit zu verweilen. Aber man scheint mit den eigenen Narben schwer zurechtzukommen und jagt der alten Totentanzmanier hinterher – Geschichte kann nicht oft genug erzählt und nacherzählt werden, um daraus zu lernen. The Sound Of Music hat ja von anderen Balkonlandschaften aus die Welt erobert. Mit dem russischen Staatspräsidenten W. Putin hat das wenig zu tun, der da an der slowenischen Grenze bei Gamlitz mit der Außenministerin ein Hochzeitstänzchen unter Anwesenheit des Kanzlers wagt – ein großes Schunkeln, um in welcher Symbiose aufzugehen? Passt gut in die Zeit: Hundstage, Spätsommer, Herbst. Chemnitz, das die klardeutliche und konsequente Aussage „Ich bin kein Volk!“ nach den pogromartigen Ausschreitungen verdeutlicht, fordert den Deutschen Rechtstaat. Gleichzeitig in diesem herbst eröffnet ab 30.8. Bernhard Wolf mit „Visuelle Strategien im öffentlichen Raum“ in der Kunsthalle Graz. Ebenso sperrt das Café Wolf in der Annenstraße mit 12.9. auf – alles herbstlich rechtzeitig. „Die Wölfe tanzen“ könnte der Titel eines Volksstückes heißen, eines wechselseitigen Frontalstückes, das mit seinem Ensemble ostentativ in eine Weite rast, die schwer einschätzbar scheint. Fronten gibt es viele, Ex-Fronten wie Frontalkarambolagen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich ein Volk mit Fronten umgibt, dass man Europa durch eine Frontex „schützen“ muss, dass die Front samt ihrem friktionellen Grad sich bereits programmiert, politisch wie kulturell, künstlerisch wie menschlich. Da bleibt genug Volk um ein Ich-Bewusstsein übrig, um das Front-Nationaltheater und seine Konfliktfronten neuerlich zu hinterfragen, um die neuen Despoten mit ihren Tänzen auszuloten. Waren es in den späten 80ern noch Bands wie Front 242, die sich auf ein direktes Frontalspiel einließen, so spiegeln sich heute östliche National- und Frontbegriffe, die so ein Nationalbewusstsein vorgeben, einer Old-School-Staatslehre entlehnt. Wie ernst sich die Kunst, die Avantgarde, zielgerichtet aufmacht, um eben gerade diese Frontalkollision zu vermeiden, macht mich neugierig. Nicht ums Einbremsen geht es, aber um eine emotionale Vorsicht, die schon Tolstoi in Zweigs Sternstunden der Menschheit treffend und vor der russischen Revolution warnend zugleich kundtun musste. Die Warnung vor einer neuen Frontziehung steht ebenso im Raum wie eine Blockwartmentalität kommunaler Einheiten in Gruppenzwangsmustern und -feldern. Friktionsfronten sind keine ebenen Brücken. Frontalangriffszonen der politischen Programmierung ebenso nicht. Bauen wir doch die volksfrontale Fronten und kommunalen Schützengräben sowie – dem übergeordneten humanen Völkerbegriff nach – das Nationalvolk und den damit verbundenen Begriff Kulturvolk endlich weiter ab. Die Front-National-Bewusstlosigkeit und Selbstüberhebung verführt uns ansonsten wieder zu Volkshäusern, Blöcken und eisernen Vorhängen, Barrieren, die uns kopflastig hinterherlaufen, als stünden wir vor der Erfindung des eines Volksempfängers. „Ich möcht nicht das Volk sein“ sagt uns der deutsche Kabarettist Christoph Sieger und weist auf eine verschlafene Aufklärung hin. Und um Wellenlängen geht’s auch in einer meiner neuen Fotoarbeit „Alzheimat“ bei der Fotobiennale 2018 – Sammelausstellung Steirischer FotografInnen – der Steirischen Kulturvermittlung. Die Arbeit könnte auch „Über den Volksköpfen fronten atmosphärische Schichten in weißen Bahnen“ heißen. Auf einen bunt-friedlichen Herbst.

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