Soziophobie – Jetzt oder nie!


Soziophobie wird allgemein als Vermeidungshaltung beschrieben. Für alle, die nicht gerne unter ihren Mitmenschen weilen, weil sie ihnen zu laut, zu blöd, zu übergriffig sind, scheint die Vermeidung der menschlichen Spezies ratsam.
Seit Corona, werden jedoch alle zu einer eher zurückgezogenen Lebensweise gezwungen, so dass die Soziophobie kaum mehr auffällt. Findet hier etwa eine Verallgemeinerung statt? Auch dass man bei Begegnungen erstmal einige Meter zurückspringt, wird sozial anerkannt, und stellt somit keine Besonderheit mehr dar.
Es ist ja kein Geheimnis, dass der Kontakt mit Menschen nicht immer nur Freude bereitet. Ein unbekannter Philosoph pflegte zu sagen: „Die Menschen sind ja gut, aber die Leut’“.
Bleibt jeder zu wünschen, dass sie mehr Menschen als Leut’ trifft, wobei sich so ein Mensch schnell in Leut’ verwandeln kann, oder umgekehrt. Sozusagen ein Dialektisches Mensch-Leut-Verhältnis.
Wer schon vor der Pandemie soziophob war, für den hat sich nicht ganz so viel verändert. Vielleicht haben die Soziophoben jetzt ja sogar eine Art Wettbewerbsvorteil? Oder könnten als Coach für diejenigen eingesetzt werden, die es gewohnt sind, oder sogar notwendig finden, sich ins Getümmel zu stürzen und sich gerne wie Wildschweine an Anderen reiben (wobei der Andere hier wohl mit einem Baum verwechselt wird), die Resonanz suchen?
Aber das scheitert wohl wiederum an (you name it):
Soziophobie.
Etwas bösartig könnte man sagen, dass man sich mit den Menschen, mit denen man vorher in geteilte Anwesenheit gezwungen war, nun nur noch peripher befassen muss, da keine räumliche Begegnung mehr statt findet (Willkommen in meiner Peripherie!). Für LKW-Fahrerinn_en, Supermarktverkäufer_innen und Krankenpfleger_innen gilt dies allerdings nicht.
Noch bösartiger: Die Leute, die früher darauf verwiesen waren, dass andere ihre Anwesenheit aushalten mussten, haben nun schlechtere Karten und müssen wohl noch mal in die Charme-Schule. In der Charme-Schule könnten die Unterrichtsfächer lauten, wie gestalte ich mein Ich so erträglich, dass es für andere ertragbar wird (Level A), danach ginge es an die Feinheiten.
Soziophobie lässt sich vielleicht auch so beschreiben. Wenn die einen laut ausrufen, guck mal da vorne, da ist doch XY: „Hallo XY“, denkt sich die Soziophobe: „Igitt XY“, schnell weg.
Zugegeben, das ist ein bisschen der Thomas-Bernhard-Modus, der in seinen Büchern so ausführlich die Unerträglichkeit der Wiener Burgschauspieler_innen beschrieb, blasiertes Gehabe und Pseudo-Kontakt inklusive.
Bernhard beschreibt die erzwungene Teilhabe an den (gespielten) Emotionen anderer. Aus dem Alltag vielleicht nachvollziehbar, wenn man neben Menschen in der U-Bahn sitzt, die so laut telefonieren, dass man sich nicht entziehen kann und zum Besten geben, welche Haartracht sie demnächst tragen wollen, oder darüber schwadronieren, wie Bertha das jetzt verkraftet, dass der Harry sie verlassen hat. However.
Natürlich lässt sich die Bahn wechseln, oder aber man betrachtet es so, als habe man zufällig eine Serie eingeschaltet (die eine nicht interessiert) und der Off-Schalter ist kaputt. Auch wenn man sich, um zurück auf Thomas Bernhard zu kommen, die Frage stellen kann, warum bist du nicht einfach aufgestanden und gegangen lieber Thomas?
Ein Freund beschrieb mir einmal die Situation, in der er nach jahrelanger Kurzsichtigkeit, schließlich doch zu einer Brille griff und dann einen Schrecken erlitt, als er auf einmal die ganzen Poren in den Gesichtern sah. Naja, die Poren sind ja nicht das erschrecklichste an den lieben Mitmenschen, die sich auch manchmal, wie schon Hildegard Knef wusste, als Gegenmenschen erweisen können.
Oder, wie die Eurythmics in den 90ern sangen, „Some of them want to use you, some of them want to get used by you“. Also doch eher ein dialektisches Verhältnis mit unklarem Ausgang?
Aber vielleicht ist auf die Soziophobe selbst bei aller Distanz zeitweise unentschlossen. Und im Hintergrund läuft Andreas Dorau auf repeat: „Tulpen und Narzissen sagen ja, sagen nein, sagen ja….“.