MORBID


Österreich und Wien wird so gerne Morbidität nachgesagt. Das betrifft nun gleichermaßen den physischen wie den psychischen Bereich, einer bedingt den anderen, und ohne Umschweife finde ich dabei einige Dinge sehr unterhaltsam, vor allem Texte großer SchriftstellerInnen. Absolut unangenehm im Gegensatz dazu empfinde ich in die Tat umgesetzte Morbidität, die gerne sogar quasi unter Denkmalschutz gestellt worden wäre wie etwa unfreundliche Kellner in Wiener Kaffeehäusern. Die Morbidität genau genommen nennt die Anzahl der Erkrankten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerungsanzahl, damit hatten wir im letzten Jahr viel zu tun, dazu kommen noch die Begriffe Prävalenz und Inzidenz.

Nach dem Parteitag der größten Oppositionspartei fühle ich mich veranlasst, die Begriffe Mortalität und Letalität nahtlos hinzuzufügen. H.C. Artmanns Gedanken über die zeitgenössischen politischen Vorgänge und Gebräuche wären interessant zu hören, es wäre ihm wohl gleich unmöglich gewesen wie uns allen, sie so zu kommentieren, dass es auch jemand glauben könnte. Ein Satz von Bert Brecht ist seit längerem in einem Wiener Schaufenster in der Schönbrunnerstrasse zu lesen: “Unsichtbar wird die Dummheit, wenn sie genügend große Ausmaße genommen hat.” Rosa Luxemburg würde leiden. Alles ist ein wenig später, das dazwischen fehlt nun irgendwo, was genau es ist, kann niemand genau nennen, viele wollen dorthin zurück, wo alles war. Nun, fein war es wirklich nicht, ist es ja immer noch nicht, damit gemeint ist aber gar nicht der Virus.

Manche wollen sehr wohl woanders hin, ein Geilomobil, für dessen Namensidee sogar ein Fünfjähriger bestraft werden müssste, ist seinerzeit aus dem Demokratieverständnis rechts abgebogen Richtung Bonsai-Orbanismus. Am Weg dorthin steht noch eine ganze Menge Zeug im Weg, ein Rechtsstaat zum Beispiel. Am meisten im Weg stehen sollte ihnen, wie es in einem parlamentarischen System als normales Korrektiv üblich ist, genau dieser Rechtsstaat und – eine Opposition. Die steht sich aber selber im Weg und macht den Weg frei für eine Reise ins Nirgendwo. Ein Teil der Opposition, der kurz Regierungsluft geschnuppert hat, hat sich entschlossen, dort weiterzumachen, wo er vorher war. Das ist nicht überraschend, kann er doch nichts anderes, das dafür aber widerlich gut. Ein anderer, kleinerer Teil arbeitet solide. Der dritte arbeitet an seiner Mortalität, was in Anbetracht der Umstände als außerordentliches Kunststück zu bewerten ist. Besser kann es einer Opposition eigentlich nicht ergehen: Eine Regierung existiert im Grunde nur, weil sie aufgrund einer Seuche von ureigenster Tätigkeit befreit war, die nicht bewältigen zu können diverse Vertreterinnen und Vertreter der Kanzlerpartei eindrucksvoll und regelmäßig beweisen. Mit Alternativen sieht es schlecht aus im Moment, gleich Neuwahlen sähe blöd aus, und der Koalitionspartner will und will nicht kippen, auch wenn er bei jeder Gelegenheit brüskiert oder provoziert wird. Eine Unverschämtheit jagt derweil die andere, eine Freunderlpartie löst die nächste ab, alles belegt, alles schwarz auf weiß. Und die größte Oppositionspartei sitzt in der Garderobe mit dem kleinen Handspiegel in der Hand und sieht pikiert hinein. Der große Spiegel ist blind geworden, so alt ist er. Die Perücke, auf der keine Frisur zu erkennen ist, sitzt schief, und mit Wattebäuschen schminkt sie sich verblasstes Rosarot aus dem Gesicht. Die Tür geht langsam zu, und man hört – gar nichts mehr. Nicht einmal Gezänk, das findet nämlich gleich als Ränkespiel auf der Bühne statt. Was für ein trauriges Drama.

Sportlich gesehen wären die österreichischen Sumpfgebiete, die verkehrterweise auch Politik genannt werden, vergleichbar mit dem Anpfiff eines Fussballspiels mit folgenden Aufstellungen: Ein Team stellt einen Stürmer auf, der auf einer Sänfte getragen wird, während der Rest den Schiedsrichter sabotiert. Nun gibt es aber seit geraumer Zeit die Möglichkeit eines Videobeweises: Der wird ebenso sabotiert, der Tormann sitzt nämlich gleichzeitig im Keller vor dem Bildschirm. Aber anstatt dass das gegnerische Team mit normaler Aufstellung das Spiel aufnimmt und eigentlich viele Tore schießen könnte, weil der Gegner eben mit dem Tragen der Sänfte, umfangreicher Sabotage und unzähligen juristischen Sorgen beschäftigt ist, lassen sie dem Kapitän des eigenen Teams bei quasi jedem Mal Vorbeigehen eine Blutgrätsche von hinten oder von der Seite angedeihen. Die Sänfte wird also so recht und schlecht über das Spielfeld getragen, weihevoll, aber völlig orientierungslos. Wohin wissen sie nicht, Hauptsache nach vorne, ohne allerdings begriffen zu haben, dass Tore geschossen werden müssen. Vor allem aber wundern sie sich und lachen sich halbtot über den Gegner.

Nach und nach dämmert es zumindest Teilen des Publikums, dass es diesem Team nicht um ein Ziel in Form von Toren geht, sondern vor allem darum, das gesamte Schiedsgericht zu eliminieren. Nun ist es zwischenzeitlich so, dass die neutralen Zuseher das Team mit dem Sanftgetragenen längst nicht mehr mögen und kopfschüttelnd in Ekel und Ratlosigkeit auf den Tribünen sitzen. Seine Fans finden das Spiel rätselhafterweise toll. Ob sie sich dabei auch wohl fühlen ist nicht erkennbar, es ist eine hohe Morbidität in deren Fansektor zu vermuten, an dieser Stelle ist ein weiteres Mal das o.g. Brecht-Zitat passend. Die Kameras suchen sich immer wieder Fans für Nahaufnahmen aus, um sie im Fernsehen zu zeigen. Normalerweise freuen sich diese und winken dann meist Richtung Videoleinwand im Stadion. Nun aber wenden zumindest einige sich peinlich ab und tragen vielleicht deshalb gerne Masken, weil sie dann nicht erkannt werden.

Was auch immer im Publikum los ist: Ein Spiel ist abhängig von den Qualitäten der Teams. Was die Intensität betrifft, passt der Vergleich mit dem legendären Simmering gegen Kapfenberg als wahre Härte. Die haben aber auch Fußball gespielt, im aktuellen Kick ist nicht einmal mehr zu erkennen, was das sein sollte. Es wird ständig von Fußball geredet, es wird beweihräuchert, wie toll dieses Spiel sein soll. Aber das Spiel an sich findet nicht statt, wie Hühner bewegen sich alle gackernd und Federn lassend durch die Gegend, in der Meinung, das Publikum würde gar nicht registrieren, was los ist.

Die Seuche brachte uns den immer wieder in Varianten wiederkehrenden Satz “sozial benachteiligte Menschen sind überdurchschnittlich von Covid betroffen”. Dem ist nichts hinzuzufügen. Gleichzeitig ist für einen nicht geringen Teil unserer politischen ProtagonistInnen, allen mit großem Abstand voran die beiden Parteien, deretwegen der so genannte Ibiza-Untersuchungsausschuss stattgefunden hat, zu diagnostizieren, dass intellektuell benachteiligte Menschen überdurchschnittlich oft von Inhaltslosigkeit, Oberflächlichkeit, vom Unverständnis gelebter Demokratie und schließlich auch von Korruption betroffen sind. Hier können wir leider keine Unschuldsvermutungen gelten lassen, die Beweise dafür sind erdrückend, sie werden seit Jahren im Wochentakt erbracht. Und auch wenn diese Unglaublichkeiten rein juristisch korrekt sein sollten, haben sie eine Optik, die in jedes Zerrspiegelkabinett passt. Um solche Dinge einschätzen zu können, bedarf es wiederum besagter intellektueller Grundausstattung und eines korrektiven Backups, die beide nicht vorhanden und offenbar von einem beängstigend großen Teil der WählerInnen – hoffentlich nur vorübergehend? – einfach ausgeschaltet worden sind. Kriegst eh alles was du willst – klingt nach missglückter antiautoritärer Erziehung. Reisen wie der Mob – klingt wie ein dummer, antiautoritär erzogener Mensch. Lieferung von Daten aus dem Finanzministerium erst nach gerichtlicher Exekution – ist leider kein Witz, sehr wohl aber sein Protagonist.

Erinnern wir uns an die Geschichte mit diesem Film vor zwei Jahren. Die grundsätzliche Fahrlässigkeit, ernsthaft zu glauben, mit einer FPÖ regieren zu können, wurde mit der teilweisen Veröffentlichung einer siebenstündigen Aufzeichnung von Bestechlichkeits- und Korruptionsbereitschaft bestraft. Jeder halbwegs ernst zu nehmende Mensch hätte nach fünf Sekunden gewusst, was zu tun ist. Die Kanzlerpartei hat einen ganzen Tag dafür gebraucht, um die damalige Koalition für beendet zu erklären – das stimmt nachdenklich. Die Geschehnisse und Vorgangsweisen in dieser Partei bestätigen die Vermutung, dass tatsächlich nachgedacht wurde, trotzdem weiter zu machen, unterscheiden sich doch die Film gewordenen Abgründe mit den eigenen aktuellen im Grunde nicht wirklich – das stimmt deprimierend. Aber es erklärt die Verfassung der Kanzlerpartei – diese ist zerstörerisch und morbid.

 
 
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