Der Schrei nach Veränderung


Es gibt für Menschen unzählige Gefühle. Sympathie, weniger Sympathie, Liebe, Hass, Neid, Angst. Es wird viel Werbung in diesem Land für die letzten beiden gemacht. Manche scheinen Angst und Neid schon immer zu haben und meinen seit einiger Zeit, dass es an selbiger wäre, dass der Rest des Landes nun auch endlich Angst hat, vor anderen Menschen, die zum Beispiel keine blauen Augen haben, zu wenig saufen, zu wenig oder keine Pomade in ihre Haare schmieren oder zu wenig blöd sind. Das funktioniert auch ganz gut. Ganz nebenbei wird ein Gefühl suggeriert, dass es wirtschaftlich gar nicht gut aussieht hier bei uns, und das bringt eine existenzielle Angst zum Neid auch gleich mit. Jetzt haben blöderweise die, die eigentlich gerade wegen der Errungenschaften einer im Großen und Ganzen ausgezeichnet funktionierenden Sozialpartnerschaft keine existenziellen Ängste haben müssten, weil es eben einen funktionierenden Sozialstaat derweil noch gibt, sich genau diejenigen ausgesucht, die eine berechtigte existenzielle Angst erst herstellen. Die nämlich, die meinen, dass nicht genug Geld da ist für alle einzelnen Menschen, aber mehr als genug vom selben Kuchen für ein paar wenige. Auch diese merkwürdige Idee des Teilens funktioniert kurioserweise wunderbar und wird von vielen unterstützt, die sich quasi nun selber die berechtigte Existenzangst herbeigewählt haben. Die Angst, die im Wahlkampf von den Wahlkampfsiegern geschürt wurde, bekommt nun ihre Legitimation, das werden viele ein wenig zu spät bemerken. Den selbst an die Wand gemalten Teufel wird sich jemand um sie scheren.

In einem kleinen Ort an der Grenze trug sich folgendes zu: An einer Kreuzung mit einem Zebrastreifen, der für Fußgeher und Fahrradfahrer galt, passierte ein tragischer Unfall mit tödlichem Ausgang für eine Radfahrerin. Es wurden Stimmen laut, dass an dieser Kreuzung endlich etwas gemacht werden muss. Gesagt, getan. Sogenannte Verkehrsexperten haben nun diese Kreuzung bzw. den Zebrastreifen wieder auf einen Fußgeherzebrastreifen reduziert, Radfahrer müssen absteigen. Es war grundsätzlich keine großartige Idee zu erwarten, aber diese Lösung spricht allen logischen und ökologischen Möglichkeiten Hohn: Wir schützen die Radfahrer am besten, indem wir ihnen verbieten, Fahrrad zu fahren. Es hat sich ja niemand erwartet, dass Piloten ihre Autos über die Kreuzung schieben, aber das ist so ziemlich das dümmste und dreisteste, das man sich zu einer Verkehrslösung in einer Region, die großspurig von sich behauptet, Radfahrregion Nummer eins zu sein, einfallen hat lassen.

Parallelen zeigen sich in der Sozialpolitik der derzeitigen Regierungsabrissbirne: Ein paar wenige missbrauchen den Sozialstaat, daher wollen wir ihn soweit wie möglich demontieren. Es wird in jedem einzelnen Bereich dieser Welt Missbrauch geben, immer. Wurde nicht auch von öffentlicher Hand das eine oder andere Vertrauen missbraucht? Sind nicht viele Milliarden Euro und Schilling in Banken und in verrückten Finanzgebaren verschwunden? Politiker und Banker gibt es noch immer, hat noch niemand zumindest laut darüber nachgedacht, sie abzuschaffen.

Es bleibt aber zur Zeit beileibe nicht beim Abmontieren eines Wohlstandes für alle, sondern vor allem geht es im zünftigen und trachtigen Schüren aller möglichen Ängste zuerst einmal gegen alle Fremden, und wie wir wissen, wird da kein großer Unterschied gemacht, andere Farbe ist gleich andere Herkunft ist gleich fremd ist gleich Ausländer ist gleich raus mit ihnen. Und parallel dazu kommt völlig unverhohlen und brutal, ohne lauten Aufschrei der Öffentlichkeit, das Mittel der Denunziation einherserviert: Ärzte sollen den Behörden bekannt geben, wenn Menschen in laufenden Asylverfahren aus Spitälern entlassen werden. Was die Ärzteschaft reflexartig zurückgewiesen hat. Aber ist es nicht auch eine Aufforderung an alle, doch gleich irgendwo bekannt zu geben, wenn irgendwo jemand ist, der oder die möglicherweise hier nicht sein darf, weil durch die nicht astreine mitteleuropäische Optik vielleicht eben fremd und so weiter und so fort? Die Unappetitlichkeiten kennen schon keine Grenzen mehr – und bitte nicht gleich wieder zetern, Damen und Herren von der Regierung, wenn Vergleiche mit dem Nationalsozialismus gezogen werden: Die Einladungen dazu kommen zu verlässlich und zu regelmäßig.

Ich habe keine Angst, aber mir ist nicht wohl. Ich habe Respekt vor der Dummheit, keine Angst, aber Respekt. Dynamiken brechen sehr plötzlich aus, und ich habe selbst, wenn auch in einem kleinen und vermeintlich überschaubaren Rahmen, erlebt, was es bedeutet, wenn sich eine Gruppe gegen jemanden wendet. Ich dachte, stark genug zu sein, um dieses Erlebnis zu bewältigen, mitnichten. Das geht an die Substanz, und ich habe möglicherweise etwas daraus gelernt, aber ich hätte darauf gerne verzichtet. Ich habe nie erfahren, was die tatsächliche Ursache oder der Auslöser fürs Auseinandernehmen in alle Einzelteile war. Viele an den Haaren herbeigezogene oder vollkommen unsinnige Vorwürfe konnten widerlegt werden, gemachte Fehler hatten nicht die Tragweite, um Hass entstehen zu lassen. Situationen, für die es ursprünglich Komplimente gab, wurden plötzlich umgedreht und zum Vorwurf gemacht, allen Ernstes. Ich erinnere mich noch an die Überraschung und an die Ratlosigkeit aufgrund der unglaublichen Verkehrung mancher Dinge. Auch wenn es weit hergeholt klingt: Mir wurden nach diesem Erlebnis die Möglichkeit und die Entwicklung von Katastrophen wie einem Nationalsozialismus und faschistischen Regimen absolut nachvollziehbar. Es entsteht eine Dynamik, die keine Sachverhalte mehr braucht. Stück für Stück werden Verhaltensregeln abgetragen und stetes Brechen bisherigen gesellschaftlichen Anstandes zur Normalität. Schleusen öffnen sich. Dann geht alles ganz schnell. Für manche geht es – endlich – konkret gegen konkrete Menschen, und für Trittbrettfahrer gilt die Formel: Wenn wir schon dabei sind, machen wir das auch gleich in einem Abwasch, ich hätte da auch noch ein Hühnchen, das gerupft werden muss. Passt doch gerade. Solidarität? Ha-ha! War nicht zu finden, es waren Momente gigantischer Einsamkeit.

Ich neige nicht zu Dramatisierungen. Ich habe lediglich meine Augen und vor allem Ohren stets weit offen, und durch diese fließt seit geraumer Zeit einiges an Ungemach herein. In Deutschland nennen Vertreter der neuen rechten Flanke fremde Menschen in Bausch und Bogen “Taugenichtse”. Unsere vergleichbare Fraktion, die von der so genannten Partei der Mitte in die Regierung geholt wurde, sagt das zwar nicht in einer Nationalratsdebatte, aber Mitglieder von ihnen singen beim Saufen Lieder, die den Holocaust loben und preisen, als nur ein Beispiel von unzähligen. Die AfD nennt Österreich als ihr Vorbild, ich weiß nicht, ob die gesamte Bundesregierung darauf stolz ist. Bei den meisten ist davon auszugehen.

Thomas Bernhard hätte zu solchen Zeiten höchstwahrscheinlich für Niedertracht genauso viele Worte gefunden wie es in der Sprache der Inuit Begriffe für Schnee gibt. Aber wahrscheinlich hat sich gar nicht so viel verändert, es wird lediglich eine Zwischenphase mit halbwegs herzeigbarem Umgangston beendet, weil er von einigen einfach nicht verstanden wurde – und was anders ist, ist für reaktionäre und blindkonservative Leute eben nicht nur anders, sondern falsch, das beweisen sie seit Ewigkeiten. Ein Begriff kann derweil getrost aus den Büchern gestrichen werden: Es ist der Begriff der Bürgerlichkeit. Dieser Begriff leidet ohnehin längst an großer Fragwürdigkeit. Seit der Anbiederung an die rechtsextremen Bünde und dem Versuch, diese mit Biegen und Brechen in Bürgerliche umzuwandeln, bleibt der Begriff schließlich als feixende Karikatur übrig, zumindest im Kontext mit jener Partei, die sich als jene der Mitte irrtümlich begreift.

Ein Sprichwort sagt, dass ein passables Niveau von unten betrachtet sehr leicht wie Arroganz aussieht. Dieses Sprichwort ist für die Arroganz der derzeitigen Regierung und ihrer Protagonisten nicht anwendbar, es gilt vielmehr: Arroganz kommt auch gänzlich ohne Niveau tadellos zurecht.


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