Denken, Sprechen und gegen Möbel laufen


Ganz früh, wenn die meisten noch im Bett liegen, oder mit verklebten Augen am Küchentisch sitzen, gibt es eine Radiosendung: Zuspruch am Morgen. (Was ist das eigentlich für ein beschissenes Leben, wenn man schon direkt nach dem Aufstehen Zuspruch braucht?)

Der Zuspruch ist dort religiöser Art. Der Aufbau immer gleich. Nach der Begrüßung beschreibt die Sprecherin, dass ihr doch neulich „eine seltsame Geschichte“ passiert sei. Die Geschichten sind meistens etwas belanglos. Ein schreiendes Kind in der Bahn, die Leute wenden sich genervt ab, eine Frau macht einen Scherz, indem sie sich versteckt und wieder zeigt, und hoppala das Kind ist wieder froh.

Oder, ein altes Männlein hat sein Portemonnaie verloren und spricht hilfesuchend Passanten an, als ein kleines Mädchen ruft „da ist es doch“ und der Mann glücklich von dannen zieht.

Am Ende der Geschichten gibt es jedoch immer eine Wendung und einen Bezug zum „lieben Jesulein“, das, gleich einem Eichhörnchen, auf einmal in die Geschichte hineinhüpft und dem Alltäglichen einen tieferen Sinn gibt.

Dann gibt es noch die Nachrichtensprecher*innen. Eine Lästerlichkeit besagt, dass es solche gibt, die nur Silben lesen und andere, die denken. Als Zuhörerin merkt man das, manchmal zumindest. Zudem kann das bloße Silbenlesen auch zum Fauxpas führen, aus Langen-selbold wird Lang-ensel-bold. Aus der Bus-empfangsstation, wird die Busem-pfangstation. Was genau ein Busem ist, ob es sich dabei um ein noch nie gesehenes seltenes Tier handelt, mit Klauen, Stacheln und unendlich langen Armen und Beinen, sei dahingestellt*. Silbentrennung ist auf jeden Fall tückisch.

Auch in der Schauspielerei sieht man, ob jemand denkt oder nicht. Die, die beim Spielen nicht denken, können dann vielleicht den Baum spielen, oder so. Allerdings ist das gar nicht so einfach mit den Gedanken, man kann ja als Hamlet nicht darüber nachdenken, wie man morgen das Ikea-Regal aufstellen will, oder was es nachher in der Kantine gibt, denn diese Gedanken könnten sich unpassend im Gesicht widerspiegeln. Außer man hat ein Pokerface und damit wieder ganz andere Probleme. Also müssen ja die Gedanken und Gefühle dem Gesprochenen irgendwie zugeordnet sein, im Besten Fall sich gegenseitig auslösen, oder so ähnlich.

Die Regel; „Merk dir den Text und lauf nicht gegen die Möbel“ (eine alte Hollywoodregel) wird nicht für jede Rolle ausreichen. Wobei man bei manchen alten Western doch den Eindruck hat, dass genau darin die Regieanweisung bestand.

In der Politik ist eine aufgeregte Sprechweise meistens auf den Bänken der Opposition zu finden. Die Regierenden können im schlechten Licht dagegen etwas saturiert erscheinen. Hier kommt man jedoch am Inhalt nun nicht mehr vorbei. Und es macht einen Unterschied, ob man tatsächlich selbst aufgeregt ist, oder die Aufregung als Mittel verwendet, um potentielle Wähler anzuheizen, und darüber hinaus und vor allem wesentlich, zu was man sie anheizen möchte. Hier kann einem jeglicher Humor vergehen, und der Witz wird schal im Mund.

„Über die allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Reden“ hat sich auch schon Heinrich von Kleist Gedanken gemacht. Oder wie Homer fragte: „Welches Wort entfloh dem Gehege deiner Zähne?“.

Deswegen Hirn aus, Mund zu und im gestreckten Galopp gegen den nächsten Schrank gelaufen …

* Die Inspiration für die Busempfangstation und dem Busem stammt aus einem Stück der Theaterschule im Kalkwerk.

  • Bildrechte/copyright Ⓒ: filmsbyjtg, presenting Lionel M. Macauley for “MACA” cover art. His Statement: “I had to deduct my past from the present and give you this present with my presence so let me get presentable!”