Wenn man gefühlt nach Jahrzehnten wieder ein Theater besucht, kann man sich die Frage stellen: „Was machen die Leute da eigentlich?“
Der erste Eindruck kann sein, Menschen stehen auf der Bühne und schreien sich an. Oder auch, als sei man bei einer seltsamen Familie (alle Familien sind seltsam) zum Mittagessen eingeladen und auf einmal eskaliert da etwas. Als Gast möchte man dann vielleicht aufstehen und fragen: „Und was hat das jetzt bitte alles mit mir zu tun?“.
Ein Windzug, eine Kerze wird ausgeblasen, ein Geruch, ein Topf mit Gulasch wird durch das Theater getragen, ein Mann mit Bart schreit einen Anderen an, Spucketropfen im Gegenlicht. Im Theater werden dann doch mehr Sinne angesprochen als im Film. Es gibt eine größere Unmittelbarkeit und die Gefahr, involviert, berührt zu werden, in vielerlei Hinsicht. Die Figuren sind nicht auf die Leinwand gebannt, sie können auch ganz physisch näher kommen (Adorno sagte über den Film „Riesen, die mit der Stimme von Zwergen sprechen“, was heute durch die oft überlauten Soundsysteme in den Kinos nicht mehr zutrifft).
Beim Schauspiel stellt sich ganz allgemein auch die Frage nach der Mimesis. Jemand schrieb einmal, dass das höchste Kompliment die Nachahmung sei. Vielleicht gar nicht so dumm… Oder auch eine Möglichkeit den Anderen zu verstehen. Oder gilt das sogar bei der Imitation der Motorik von Tieren? Aber das führt hier wohl zu weit.
Berthold Brecht hat einmal über die Haltung des Zuschauers beim Theaterbesuch gesprochen. Das Publikum solle mit Abstand, eine Zigarre rauchend, das Geschehen betrachten. Einem Mann (oder einer Frau) mit Zigarre könne man nichts vormachen, so seine These. Abstand und Reflektion, statt Identifikation sollten in Brechts epischem Theater zentral sein.
Brecht war also gegen einen identifikatorischen Bezug. Sich nicht mitreißen lassen, sondern die Zusammenhänge mit Abstand betrachten. Dabei ging es Brecht natürlich auch um gesellschaftliche Veränderungen. Wenn wir verstehen, warum die Welt so ist, wie sie ist, wodurch das Leid entsteht, durch was es verursacht wird, können wir sie auch verändern.
Brechts Fokus lag weniger auf Liebesleid und dergleichen, sondern auf der Frage nach der Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum, Klassenunterschieden, dem Leid das durch Armut verursacht wird, oder auch dem, was die bestehende Gesellschaft dem Einzelnen antut.
Es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, oder zumindest zu erwägen, ob die Romantik nicht eher zur Hirnverklebung führt. Und, da die Kulturproduktion eben auch im Kapitalismus statt findet, stellt sich die Frage, wie die Warenförmigkeit diese Gefühle nicht auch überformt.
In der Serie „The Affair“ fragt ein engagierter Lehrer die Schüler_innen was sie meinen, worum es Shakespeare bei Romeo und Julia gegangen sei. Jemand antwortet, dass sie mit diesem „Meet me her’o, I’ll be ther’o“ nichts anfangen könne. (Das Setting ist eine öffentliche Schule, die weiße Mittel- oder Oberschicht ist abwesend). Im Weiteren spricht der Lehrer von der Unschuld der Liebe, die in der bestehenden Welt nicht überleben könne. Romeo und Julia sind Kinder, die noch nicht (wie die Erwachsenen) Schuld auf sich geladen haben. Und auch die wohlmeinenden Erwachsenen, wie Amme und Priester, führen das Unglück mit herbei.
Vielleicht klingt in diesem Zusammenhang dann sogar ein bisschen Marx an, der im XVIII Brumaire schrieb: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ Die vorgefundenen Umstände werden auch für Romeo und Julia zum Verhängnis, auch wenn es sich in diesem Fall um eine Familienfehde und nicht um die kapitalistische Produktionsweise handelt.
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