ZU.HÖREN


Das Ruheabteil in der Eisenbahn ist ein Minimundus der echten Welt. Es kann schon übersehen werden, sich in einem Ruheabteil zu befinden, und meist halten sich Menschen, die wegen eines Telefonats darauf aufmerksam gemacht werden, sofort daran, die meisten entschuldigen sich sogar. Manche murren, telefonieren weiter und hören erst auf, wenn sich mehrere Menschen beschweren, einer genügt oft nicht. Nicht selten wird man angeblafft. Der Schluss daraus: Es sitzen zwanzig Personen in einem Ruheabteil, von denen neunzehn aus Überzeugung dort sitzen und eine irrtümlich. Diese eine Person, so sie sich der Idee des Abteils, nämlich der Ruhe, widersetzt, bleibt in Erinnerung. Neunzehn andere geraten in Vergessenheit.

Eine Person von neunzehn ist ZU.HÖREN. Obwohl man ihr nicht ZU.HÖREN möchte.

Eine ganz simple Rechnung, von Schreihälsen schnell als taugliches und rücksichtsloses Transportmittel bemerkt. Als 2015 viele flüchtende Menschen nach Österreich gekommen oder durchgereist sind, gab es viel Gebrüll. Manche standen nahe den Zelten, in denen Menschen medizinisch und mit Nahrung versorgt wurden, und beschimpften Helferinnen und Helfer. In diesem Fall habe ich mir kurz wenigstens beide merken können, Schimpfende und Helfende. Wobei ich die Schimpfenden in der Zwischenzeit vergessen habe. Es gab sehr viele leise Menschen. Die habe ich nicht vergessen. Unspektakulär haben sie einfach anderen Menschen geholfen, ohne Intention, Schlagzeilen zieren zu müssen. Ohne Angst.

Die Ängstlichen schreien. Sie wollen ZU.HÖREN sein. Ängstliche schreien zurecht: Feuer macht kein Vergnügen, und es wäre Unsinn, bei einem Brand einen Kreis zu machen und darüber zu reden, was zu tun ist. Menschen in Not müssen sofort gerettet werden, das Schreien macht also Sinn. Es hilft auch, solange die Richtigen bei den Richtigen schreien. Das christliche Abendland hat sich von seine christlichen Wurzeln verabschiedet und verändert, glaubt aber nach wie vor, vor allem an sich selbst. Schreien die falschen Menschen am falschen Ort, lässt man sie ersaufen, warum schippern sie auch dorthin. Diese Nichthaltung und Menschenverachtung ist innert Verfassungsbögen und also rechtens, bescheret hast, amen.

Neben berechtigten Ängsten gibt es künstliche. Die werden von jenen vorgebrüllt, die selbst nichts zu befürchten haben, aber die Ängste anderer gut gebrauchen können. Wenn im echten Leben zu wenig Angst herrscht, muss ein Paralleluniversum her. Das echte, mitteleuropäische Universum ist jenes, das sich über Jahrhunderte aus aller Welt Sachen geholt hat ohne zu bezahlen. Nun möchten ein paar wenige hierher, weil es ihnen unter anderem aus einem daraus resultierenden Mangel schlecht geht. Oder weil sie verfolgt werden, weil sie nicht das Richtige denken oder die Falschen lieben. Fast alle bleiben ohnehin, wo sie sind oder gehen sonst wohin, zu den Nachbarn, nur ein winziger Bruchteil kommt zu uns.

Angst ist ein schlechter Berater, heißt es, aber ein ausgezeichneter Wahlhelfer. Also ist zum Beispiel in unserer Alpenfestung gebrüllt worden, dass wir alle Angst haben müssen vor einer Flüchtlingswelle, die längst vorbei ist. Aber es hat funktioniert. Es war und ist überall ZU.HÖREN. Nebenbei wurde auch gebrüllt, dass der Wirtschaftsstandort knapp vor der Auslöschung steht. Das haben auch viele geglaubt und glauben es noch immer, obwohl die Regale immer noch niemals geleert werden können.

Es werden Brände gelegt, um gleichzeitig Feuer ausrufen zu können. Feuer klingt immer gut, ist immer gut ZU.HÖREN.

Der blinde Alarm hat gescheppert, und sie drehen die Sirene immer auf, wenn abgelenkt werden muss, also quasi die ganze Zeit. Benutzt wird sein Echo nun vor allem in den so genannten sozialen Medien. Dort wird gebrüllt, als gäbe es kein Morgen. Dort brennt es lichterloh. In diesen Foren, auf den einschlägigen Seiten, wird diffamiert, gelogen, bereits digital gemordet. Es wird gedroht, es wird Hitler als vermisst gemeldet. Es gibt eine nicht zu leugnende Affinität und regelmäßig direkte Verbindungen nicht von irgendwelchen, sondern von gewählten so genannten Volksvertretern zu manchen dieser Organisationen, die nationalsozialistisches Gedankengut wiederbelebt haben und nun in die Welt hinaustragen.

Dort, in der Volksvertretung selbst, wird schon auch gebrüllt, natürlich, aber diese Volksvertreter sind schon einen Schritt weiter auf ihrem vermeintlich klug geplanten Weg in die Vergangenheit. Sie praktizieren die interne Zensur. Hier geht keine Meldung ins Öffentliche, ohne vorher kontrolliert zu werden. Es ist, egal aus wessen Munde, immer dasselbe ZU.HÖREN. Das behaupten viele Medien. Das ist aber viel zu hoch gegriffen. Ja, es ist festzustellen, dass ausschließlich an den Stimmen erkennbar ist, wer gerade spricht. Das gilt nicht mehr nur für die beiden selbsternannten Kuschelmonster an sich, sie gehen ineinander über. Es gibt eben offenbar keine anderen Ideen, so what, das ist keine Überraschung. Aber genau so wenig, wie sie sich um die Menschen scheren, scheren sie sich in Wahrheit umeinander. Beide sind bis ins Knochenmark opportunistisch, beide sind hoffnungslos gierig und ewig gestrig, und beide empfinden den jeweils anderen als Betonschuh, den sie nicht loswerden, ohne den sie aber auch nicht existieren können. Für die einen die einzige Möglichkeit zur Beteiligung an Macht, für die anderen die einzig billige Lösung zur Erlangung von Macht, die viel zu teuer bezahlt wurde.

Wie weit entfernt diese beiden von ewiger Zweisamkeit sind, lässt sich nicht zuletzt am rechtsextremen Tourettesyndrom des einen zu sehen. Diese Schreiattacken kümmern den anderen überhaupt nicht. Das zeigt nun zwar eindrucksvoll, dass die anderen selbst überhaupt kein kein Problem mit Rechtsextremismus haben. Das passiert alles ganz ruhig – und ist deshalb umso lauter ZU.HÖREN. Den Skeptikern in den eigenen Reihen genügt offenbar ein flacher Satz, in dem erklärt wird, dass rechtsextrem pfui ist. Wenn es sich außerhalb eines Verfassungsbogens befindet. Innerhalb ist ok. Es ist alles auch in der Verschwiegenheit so laut, dass selbst zwischen den Zeilen alles fett gedruckt ist. Diese anderen sind dort anzusiedeln, wo bis vor kurzem die einen mit dem Uranspruch rechtextremer Geisteshaltung sich befunden haben; diese selbst sind längst am Weg in ein Jenseits, völlig ohne und außer Kontrolle. Das Ziel, das sich bislang nicht erahnen ließ, scheint den Protagonisten dieser Zweisamkeit außer Reichweite geraten zu sein, nämlich bereits in seiner Idee. Es gibt kein Ziel, dass bisher schlüssig formuliert wurde, außer Macht zu bekommen, Macht zu erhalten und alles, was nicht nach ihren Vorstellungen geschieht und existiert, als falsch zu qualifizieren und wenn irgend möglich abzuschaffen. All die Dinge, die beide nicht mögen und trotzdem bisher ertragen haben müssen. Die lustigerweise einer davon seit mehreren Jahrzehnten wesentlich mitgestaltet hat und jetzt gemeinsam mit dem anderen bekämpft, als wären sie selbst nie dabei gewesen. Neues? Wird es nicht geben.

Vielfach wird sowohl von sympathisierender wie von kritischer Seite festgestellt, dass den Tätigkeiten dieser beiden eine ausgeklügelte Strategie zugrunde liegt. Das halte ich für maßlos überschätzt, so wie diese beiden insgesamt maßlos überschätzt werden, die Geschichte wird sich wiederholen. Zu wünschen wäre eine Wiederholung wie nach der ersten dunkelblauen Schauerphase vor ein paar Jahren. Ein halbwegs wach gewordenes Land, das gesehen hat, mit wem und mit wem nicht ein Staat zu machen ist. Auf längere Sicht wäre es die langsame und große Wiederholungsschleife, die zu einem unangenehmen Ende führen würde: Die rechte, rechtsnationale und schließlich rechtsradikale Sackgasse, an deren Ende frei nach Lukas Resetarits ein Wirtschaftswunder sein wird. Ein Wirtschaftswunder ist demnach das Wunder, dass nach einem Krieg – möge uns so etwas erspart bleiben – alles kaputt ist, nur nicht die Wirtschaft.

Ist es also die Gesellschaft und seine teilweise erfreuliche Entwicklung, die angebliche Verlierer zurückgelassen hat? Wurde ein heterosexueller Mensch vergessen, weil ein homosexueller Mensch sich nicht mehr verstecken muss? Wurde eine Frau, die aus freien Stücken zu Hause sich um die Kinder kümmert, vergessen, weil andere Frauen einer Arbeit nachgehen und oft nachgehen müssen, weil niemand da ist, der Geld für sie und die Familie verdient? Haben Männer etwas verloren, und wenn, was, bei der Tatsache, dass Frauen um im Schnitt ein Fünftel weniger Gehalt bekommen? Wo und was ist das Abgehängte bei den so genannten Abgehängten?

Es wurde vorgebrüllt. Es war überall ZU.HÖREN. Wir hören euch zu und sagen euch aber eigentlich, dass ihr uns jeden Schmarren glauben müsst und es euch in Wirklichkeit viel zu schlecht geht WEGEN DENEN DA, hier hetze und setze ein nach Bedarf.

Offenbar knabbern viele Menschen in unserer Gesellschaft an einer grundsätzlichen Gleichstellung von Menschen. Das wäre das Ziel in einem gemeinsamen Miteinander. Diesem Ziel habe ich mich schon näher gefühlt als jetzt. Es ist auszuschließen, dass ernsthaft an einer klassischen und traditionellen Familienstruktur Kritik geübt wurde. Es wird jedoch suggeriert, dass diese Strukturen gefährdet wären, von wem auch immer. Gebrüllt wird hier kurioserweise nach dem Status quo, der gerade weggebrüllt wurde und wird, aber die ganze Zeit völlig unberührt und unangetastet da ist. Die Zuhörer und Kopfnicker können nicht aus dieser Verantwortung genommen werden. Noch niemand hat gefordert, dass eine traditionelle Familie abgeschafft werden muss. Niemand. Das Jodeln verbietet auch niemand. Dummheit auch nicht. Ungefährdet, die Dummheit.

Vielleicht überschätze ich alles immer noch maßlos. Vielleicht sind diese Vermutungen, warum so laut gebrüllt wird, viel zu umständlich oder zu gründlich untersucht und zu kompliziert zusammengestellt. Denn wahrscheinlich wird nur deshalb so laut gebrüllt, weil es so ein Unsinn ist. Unsinn muss ja geradezu gebrüllt werden, um hängen zu bleiben. Eine vernünftige oder sinnvolle Idee muss nicht gebrüllt werden, so etwas kann ganz entspannt ausgesprochen werden, weil wenn sich jemand Zeit nimmt, wird eine vernünftige Idee auf offene Ohren stossen. Das ist aber lange nicht mehr passiert, der Pegel ist insgesamt zu hoch. Gemäßigte Lautstärke, also Zimmerlautstärke, ist nicht mehr ZU.HÖREN. Return to Sender.

Irgendwann wird das Dauergebrüll vorbeisein. Es ist schon hoffnungslos übersteuert. Hoffentlich wird es aber nicht wegen eines Gehörsturzes sein. Hoffentlich wird es vorher sein, vor der Explosion. Die, die den Schreiern zugehört und geglaubt haben, werden schwerhörig sein, um leichter zu vergessen, das war schon einmal so. Das Echo wird aber spürbar sein, lange. Hoffentlich werden die Schreier heiser und die Besonnenen wieder hörbar.

Das wäre im Übrigen ein feiner Name für ein Lokal, Hörbar. Gehen wir heute in die Hörbar. Die Unüberhörbar hat zugemacht, die haben zu viele Sperrstunden überschritten, einem kleinen Kavalier ist dabei das Hirschleder geplatzt, mitten im Schritt beim ständigen Überreiten von Grenzen. Einem anderen sind die hellblauen Pupillen beim Nachdenken oben unter den Lidern hängengeblieben, obwohl es heißt, das könne nicht passieren. Aber seine Pupillen waren noch nie so weit oben und wollten einfach oben nachschauen, was da noch sein könnte. Eine hat sich beim Kasatschok den Knöchel verstaucht. Einem ganz jungen ist die Frisur durcheinander gekommen, mental war da nichts, was kaputtgehen hätte können. Einer meinte, dass es wohl nicht schlau wäre, was in den Schulen so angestellt wird jetzt – nicht von den Schülern, sondern von ihm selbst – aber dass eben manche Entscheidungen nun einmal politisch sind, womit er selbst das analytisch und rational Richtige herausnimmt und sowohl Unsinn als auch Opportunismus eindrucksvoll als Geständnis zu Protokoll gibt. Alle zusammen haben sie in der Unüberhörbar das Unerhörte zelebriert, jetzt sind Gehöre und Toiletten verstopft, alles ist überschwemmt. Und Stille. Die Unüberhörbar ist jetzt bis obenhin voll mit Wasser gefüllt, und es klingt den darin Schwebenden in den Ohren, wie es eben klingt, wenn man in einem kleinen Becken oder gar einer Badewanne untertaucht: Es ist das Echo der Enge ZU.HÖREN. Sie hören nun ihre eigene Beengtheit, in der sie denken, in der Unüberhörbar. Rundherum kein Horizont, kein Ufer. Es ist ein dröhnendes Schweigen. Es ist kein Traum, der in die pränatale Phase führt. Das Wasser ist kalt und schmutzig, sepia. Keine Farben mehr. Was schwarz und weiß vorgebrüllt wird, kommt irgendwann in sepia zurückgegurgelt.

Farben lassen sich nicht zerstören. Kunst lässt sich nicht zerstören. Denken lässt sich nicht zerstören. Vieles, was im Moment überbrüllt wird, wird stets und ständig, in angemessener Lautstärke oder auch zwischendurch schweigend, da sein, und ich weiß, es macht die Brüllenden unruhig, dass nicht alles und alle für die Gehirnwäsche geeignet sind. Dieses ständige Flimmern jener, die nicht so funktionieren, wie es die in der Unüberhörbar Treibenden und Gleichschalter gerne hätten, dieses unauslöschliche Flimmern und Anwesendsein sickert durch die ewig gestrigen Ohren und verharrt in den Köpfen wie ein Sirren, wie ein Schranken, der den Weg zurück versperrt, in die Heimat, die sie sich in Sepia ausgedacht haben, die einen wie die anderen. Das wird immer ganz laut ZU.HÖREN sein, sicher.