Daniel Falb, Deutschland. Ein Weltmärchen (in leichter Sprache). kookBOOKS, Reihe Lyrik Band 84, gestaltet von Andreas Töpfer. ISBN 978-3-948336-20-2, 160 Seiten, € 24,-
Heinrich Heines satirisches Epos “Deutschland. Ein Wintermärchen” hat bekanntlich den Moment zum Höhepunkt, wo der Protagonist, da er Auskunft über Deutschlands Zukunft begehrt, von der Hamburger Schutzgottheit Hammonia aufgefordert wird, sich mit dem Gesicht über das Orakelbecken zu beugen – nämlich die tausendjährige Kackschüssel von Karls des Großen Leibstuhl:
“Die Zukunft Deutschlands erblickst du hier
Gleich wogenden Phantasmen,
Doch schaudre nicht, wenn aus dem Wust
Aufsteigen die Miasmen!”
Was ich gesehen, verrate ich nicht
Ich habe zu schweigen versprochen,
Erlaubt ist mir zu sagen kaum,
O Got! was ich gerochen! ––
Die lange, satirisch erzählte Reise durch ein Deutschland, welches die Folgen der Aufklärung und der französischen Revolution noch nicht so recht verdaut hat, gipfelt somit darin, dass der Kopf des scharfsinnigen intellektuellen Beobachters gewissermaßen von den guten Geistern Deutschlands in die Scheiße getunkt wird. Wen das ins Recht bzw. ins Unrecht setzt – den humanistisch urteilenden Welt-Insassen, oder die in-humanen Geister der Vorzeit – lässt Heine noch offen. Marx, etwas später, ist deutlich parteiischer – “Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden” –, aber ihm ging’s ja auch gerade nicht um die deutschen Gespenster, sondern um die französischen. Der Preis der geschichtsphilosophischen Erkenntnis und politischen Orientierung im Jetzt ist jedenfalls der buchstäbliche Mief.
Der Ton bei Heine ist volkstümlich, locker, sangbar – demokratisch. Das jüngst bei kookbooks erschienene Gedicht “Deutschland. Ein Weltmärchen” von Daniel Falb dagegen, das schon im Titel Heines Wintermärchen als seine Folie ausweist, ist das alles nicht. Die Behauptung auf der Titelseite und manchen Zwischenüberschriften, “(in leichter Sprache)” abgefasst zu sein, ist dabei nicht im engeren Sinn falsch, aber doch lustig. Der komische Effekt der Setzung resultiert nicht aus der Distanz der einzelnen als “leicht” überschriebenen Textstellen zu dem, was tatsächlich “leichte Sprache” wäre, sodern aus der realen Distanz der ganzen Gattung zeitgenösischer Lyrik samt der Rituale ihres Soziotops vom sogenannten Alltag der sogenannten normalen Leute. Falb hält nämlich die Vorgaben “leichter Sprache” wirklich ein, wo er dies ankündigt: in der Tat sind jene Stellen didaktisch klar und bieten dem*der geneigten Leser*in keinen intrinischen Widerstand. Aber gerade das lenkt dann unser Augenmerk auf die Grundschwierigkeit, dass schon am Ort von Lyrik im Leben selber – an dem Grund, Gedichte zu lesen – überhaupt nichts klar oder “leicht” verständlich ist. Selbst allerkanonischste Kontexte, wie hier das Wintermärchen, sind inzwischen so exotisch wie nur irgendein Sanskrit-Sutra.
Heines und Falbs Märchen ist gemeinsam, dass sie produzieren, was wir auf österreichisch “Wuchteln” nennen dürfen: zitable, performativ unter- oder übergriffige Pointen, um die herum oder auf die hin die einzelnen Abschnitte strukturiert sind. Ebenso, was die Handlung betrifft: Heines Erzähler reist von Frankreich kommend Deutschland und konfrontiert die Gespenster der deutschen Geschichte mit den Errungenschaften der Lebenden (der Aufklärung, der französichen Revolution, der Herrschaft Napoleons); Falbs lyrisches Ich besichtigt analog dazu – von Deutschland kommend – weltweite Schauplätze einer Globalisierung gerade deutscher Kapitalien. Die Schauplätze haben gemeinsam, anschaulich zu bebildern, wie die kurz-, mittel- und die langfristigen Interessen des deutschen Kapitals (sagen wir: des Finanzk., des Industriek. und des kulturhegemoniellen K.) einander durchaus widersprechen. Wachstum auf Kosten der Substanz findet statt, und weil es Daniel Falb ist, der da schreibt, auch auf der Ebene der Ideen, Ideologeme, Gedanken:
*Das automatische Fahren ist ein Modellprojekt
algorithmischer Volks–
Wagen-Governance
in Xinjiang, wo VW
mit Baidu,
mit Huawei,
mit DJI
“werkt”
{Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben}.
Autonomes Fahren gibt’s für VW nur in Xinjiang.
😉
{Darf ich klar sein?}
{Ich wische mir endlich Croissant-Reste weg.}
{Das einzige VW-Modellprojekt zum autonomen Fahren [auf der ganzen Welt]
ist das in Xinjiang.}
Der Volkswagen liest Nummern-Schilder.
– Herzlichen Glückwunsch und Blumen. –
Der Volkswagen nimmt Stimmen der Mitfahrenden im Führerhäuschen auf
und zeigt ihnen den Weg.
Der Volkswagen zoniert die Stadt
und lässt Paemnicht erst in die
“Urumqi Economic and Technological Development Zone”
wo das eigentliche “Werk” liegt.
Der Volkswagen “verfolgt” die Fahr-Gäste,
weil sie in ihm sind,
und sie spüren den Sitz in sich.
Die Metapher, derer sich Falb durchgängig bedient, ist eine aus den Anthropozän- und Neomaterialismusdiskursen bekannte, nämlich die von der “Lesbarkeit”: die von Menschen, welche bestimmte Viren oder Bakterien lesen; bzw. von anderen Menschen, denen diese Erreger unlesbar sind (oder durch Lektüre einer Impfung unlesbar gemacht wird); von Ozeanen, die Plastikmüll lesen usw. Er bedient sich dieser Metapher, um die Art und Weise, wie die v. a. soziale Welt sich verändert und sich diese Veränderung auf unsere Leiber schreibt, als existentielles Phänomen irgendwie in seiner Ganzheit zu fassen zu bekommen. Die Art und Weise, wie er von Deutschland in der Welt spricht, baut sich um dieses Bild der Ganzheit herum. Folgerichtig ist, wenn dabei auch in unseren Blick gerät, wie die Welt Deutschland liest – etwa, wenn die deutschen Goethe-Institute und ihr Wirken in der Welt zur Sprache kommen, und “in Gegenrichtung” die Arbeit der Konfuzius-Institute in Europa: Es geht um die Lesbarkeit auch von (als) Organismen (gedachten Institutionen und Maschinen) durch andere (als) Organismen (gedachte Institutionen und Maschinen) – als geopolitisches Paradigma: Das Bild der gegenwärtigen Welt wie im Sci-Fi-Comic, wo sich Monster und Roboter – Bilder der Kapitalien und Industrien – am (Ideen-)Himmel battlen.
Man kann all dem den Vorwurf machen, dass der Dichter da die Metapher vom Organischen auf das Politische nicht nur poetisch anwendet, sondern ihr tatsächlich – philosophisch – auf den Leim geht. Aber der Einwand greift meiner Meinung nach insofern zu kurz, als Falb nur reproduziert, was in der Heine’schen Vorlage schon parodistisch vorweggenommen ist: das Beschwören weltanschaulicher Vorzeitgespenster. Was im Deutschlandmärchen die konkreten Fabelfiguren sind (Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, Vater Rhein …), ist im Weltmärchen Falbs die ideologische Metapher vom Organischen selbst, die von konservativen Denkern des zwanzigsten Jahrhunderts entlehnt ist.
Ganz konkret beschreibt Falb sein Anliegen sehr früh im Text, und zwar in jenem Einleitungsabschnitt, der tatsächlich in “leichter Sprache” abgefasst ist:
Dieses Buch ist auch eine Kritik an Deutschland.
Wie das Gedicht “Deutschland. Ein Wintermärchen” von Heinrich Heine.
Aber es ist eine moderne Kritik.
Das heißt: Es geht um Probleme von heute.
Es geht um die Verbindung zwischen Deutschland und der Welt.
Und es geht um die verschiedenen Arten von Grenzen.
Denn es gibt mehr als nur die Grenzen zwischen den Ländern.
Es gibt auch die Grenzen zwischen den Menschen.
Zum Beispiel:
– Manche Menschen sind arm und andere sind reich.
– Manche Menschen können gut lesen und andere nicht.
Falbs Buch unternimmt also den Versuch, einen geo- und sozialpolitischen Zusammenhang in seiner Totalität abzubilden – und auch noch in “leichter Sprache”, no less –, und macht sich zugleich über das absehbare Scheitern dieses Versuchs lustig. Man kann das schon auch als durchschaubar, als Selbstimmunisierungsstrategie lesen – aber das wäre dann immerhin die gleiche Strategie, die Heine in seinem weit holpriger gefügten Epos anwendet.
Und wenn uns das alles wider Erwarten keinen Spaß machen sollte, dann lässt sich “Deutschland. Ein Weltmärchen” zumindest als Materialsammlung und Recherchedossier zur Globalisierung und ihren ideologischen Myzelien lesen, soweit sie (die Globalisierung) von Deutschland ausgeht und soweit sie (die Myzelien) nach Deutschland zurückreichen.