Das Hiphop-Gesamtkunstwerk, als welches wir die öffentlich ausgetragene Beziehungs- und Identitätskrise der Eheleute Carter bestaunen dürfen, hat nach Beyoncés “Lemonade” und Jay-Zs “4:44” ein drittes Kapitel: “Everything is Love“. Liegt eine damit abgeschlossene Trilogie vor? … Auf sehr altdeutsche Weise scheint sogar der Hegel’sche Dreischritt draufzupassen – von den “privaten” Emotionen der Alten (These) über die öffentliche Existenz ihres Hawis (Antithese) zur äh öffentlichen Zweisamkeit (Synthese).
Bereits für die beiden Soloalben galt, dass das Aushandeln privater-körperlicher-emotionaler Sachverhalte über die Bande von Einträgen in den Diskurs afroamerikanischer Identitätspolitik/en gespielt wurde – oder man liest’s umgekehrt, und das körperliche/emotionale Zeug ist nur als Begründungszusammenhang für pop-politisch/diskursiv intendierte Hervorbringungen da … Jedenfalls ist, was wir da haben, Id–Pol.
Jetzt kann man ja die konsequente IdPol-Haltung, wie sie vor allem in 4:44, und da wiederum vor allem in der Story of O. J. zu Tage tritt, fehlgeleitet finden: insofern sie sich zusammenfassen lässt als die Hoffnung, es ließe sich der blanke Kapitalismus gegen den gesellschaftlich verankerten Rassismus ausspielen; es könnte “Erfolg” zuerst individuell errungen und erst dann per auch ethnisch vermittelter Solidarität weitergegeben werden; es wäre, in letzter Konsequenz, an der real-oarschigen Klassenherrschaft hauptsächlich zu kritisieren, dass in den Aufsichtsräten und schicken Speckgürtelsiedlungen nicht eine genau paritätisch aufzuschlüsselnde Anzahl von Vertretern der verschiedenen ethnischen und religiösen Herkünfte bzw. der diversen Gender-Identities sitzen; als würden solche Ansätze nicht alles das, was sie loszuwerden antreten, erst recht zementieren, und zugleich noch die wahre Ungleichheit, den wahren Missbrauch im Kapitalismus als Naturgesetz verewigen …
Das kann man wie gesagt so sehen und auf Jay-Zs oben verlinkten, hervorragenden Track über O. J. einwenden. Man kann’s sogar noch viel weiter auseinanderklamüsern. Aber so hinterfragbar jede Theorie ist, so unhintergehbar als ästhetisches Dings eigenen Rechts zu behandeln ist die je ihr zugehörige Kunst. Die Katholiken beispielsweise können mit Fug und Recht sagen: “Wir haben keine Argumente mehr, aber kuckt mal: die Sixtinische Kapelle!” Ganz ähnlich verhält es sich nun mit der beschriebenen schwarzen/u.s.-liberalen/kapitalistischen IdPol einerseits und andererseits diesem Video, das als erster Auszug von “Everything is Love” auf Youtube erschienen ist – “APES**T“. Mit ihm ist nicht zu argumentieren. Es ist in seiner Spannweite, seiner Klugheit und seiner Wucht bloß pflichtschuldigst zur Kenntnis zu nehmen. Und das bedeutet auch: es sind die gezielt gesetzten kunsthistorischen Verweise des Videos mitzudenken.
(Ich warte hier, bis Sie, geneigteR LeserIn, das Video auch tatsächlich gesehen haben … fertig? – Gut:)
Wo sind wir? – (Zwischendrin, kontrastierend, sind wir immer wieder mal kurz an irgendwelchen anskizzierten Banlieu-Schauplätzen, aber vor allem sind wir:) Im Louvre, im Inneren des Über-Ich der civilisation française, Repräsentations-Salon von Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit; hier erinnern wir uns der déclaration des droits des hommes (von der aber nota bene Anfangs die Zuckerrohrsklaven in Haiti und Martinique ausgeschlossen waren); hier bestaunen wir koloniales Raubgut ebenso wie die Anfangsgründe einer Aufklärung, die Jahrhunderte später antikolonial werden konnte.
Das Video bebildert einen Track, der erstens von crowds handelt, welche apesh*t gehen, und zweitens davon, es geschafft zu haben. Das sind jetzt beides keine wahnsinnig originellen Themen für ein Stück Hiphop, aber in gerade diesem Kontext, an gerade diesem Ort? – Da weisen die Schlagworte “crowds/apesh*t” nicht nur auf den Gegensatz von steifer=alter=bourgeoiser=weißer und hopsiger=neuer=proletarischer=schwarzer Kultur, sondern durchaus explizit auf Gattungsästhetiken des 19. Jahrhunderts (bildende Kunst vs. Musik und alles das); und das “can’t believe we made it” meint was bestimmtes, ziemlich großes: Künstlerisch bedeutend, und/oder reich genug zu sein, dass sie einen im f***ing Louvre drehen lassen, und nicht irgendwas, sondern gerade dieses Video … The medium is the message. Soviel zum Track.
Was uns das Video zeigt, ist, wie schwarz codierte (dabei nicht durchgehend “ethnisch schwarzer”) Körper die ansonsten menschenleeren Ausstellungs- und Prunkräume des Louvre einnehmen; und wie sie sie nicht als plündernde Horden oder ahnungslos=touristische Barbaren einnehmen, sondern in ästhetisch passgenauen Gesten der symbolischen Aneignung/Überwindung der ästhetisch repräsentierten Ordnungen:
Zuerst, natürlich!, stehen die Königin Amerikas Und Ihr Prachtkerl vor der Mona Lisa herum; she of the undurchsichtig smile; she of that ambiguity of gender and of class and of perspective … Heißt das, wir sollen den Gestus der Carters ebenso ambig finden? Wissen wir nicht. Aber wir wissen: There is a new sphinx in town. Oder zwei.
Dann niemand geringerer als die Nike von Samothrake. Zu ihren Füßen Beyoncé, in verschiedenen Aufmachungen, jedenfalls beweglich; sie vermittelt zwischen den schwarzen Tänzern auf der weißen Treppe, die das Sichaufrichten, Hochkommen erproben, und der kopflosen Siegesstatue; die Selbstsetzung der Sängerin als fast-kultische Vermittlungsinstanz hier dürfen wir wohl problematisch finden, aber sie funktioniert. (Ist Marinetti in dieser Inszenierung mitzudenken? – Sagt uns Die Königin hier “Seht, ich bin der Rennwagen, der Euch versprochen war”?)
Ganz kurz sehen wir Jacques-Louis Davids Schwur der Horatier zu einer Seite des Bildschirms … Eine Story von erpressten Loyalitäten, Stellvertreterkonflikten (wieder: Stellvertreterei …); vorrevolutionäre Popularkunst; das definitive Ende des Barock …
Das Thema der Selbst-Setzung als Stellvertreterfigur, der Vermittlung zwischen inkommensurablen Zeichensystemen und politischen Ideen durch nichts als persönliche Ausstrahlung, es zieht sich weiter bis zum Money-Shot des Apesh*t-Videos – dem Tanz vorm Monumentalbild von der Kaiserkrönung Napoleons des Ersten (der sich bekanntlich die Krone selber aufsetzte), wiederum von David.
Was noch? – Details von zahlreichen Bildern mit oder ohne “Mohrenköpfe”, Folterinstrumente, Waffen, Fesseln als Füll- und Flackermaterial; eine Pharaonenbüste, um die herum der Tänzerchorus irgendwann tatsächlich, wie das Lied verspricht, apesh*t geht; natürlich die Venus von Miló mit ohne Arme (Repräsentanz ist weiß ist handlungsunfähig); überraschend kurz nur das “Portrait d’une negresse” – das Portrait zur Feier der Beendigung der Sklaverei und, als tatsächliches Portrait einer tatsächlichen Person, ein Gegenentwurf dazu, schwarze Frauenkörper hauptsächlich zur allegorischen Bebilderung diverser Herrschaftsansprüche – “Sable Venus” – zuzulassen; der “negresse” gegenübergestellt die “much too docile” Récamiere – lesen wir sie als un-schwarze un-sexy Frau Bourgeoisie, oder als unabhängige Intellektuelle, oder als schwaches Update der ambigen Mona Lisa?; und aber schließlich: Das Floß der Medusa.
Warum gerade dieses Bild als Scharnier dient zwischen der napoleonischen, bzw. aufgeklärten, jedenfalls weißen Welt des frühen neunzehnten Jahrhunderts, die den von Der Königin Amerikas Und Ihrem Prachtkerl eroberten Repräsentationsrahmen begründete, und jenem Heute, das sich so offenkundig leicht in diese selbe Kunst/Historie einschreiben lässt, das lassen wir mal Wikipedia erklären:
Im Auftrag der französischen Regierung sollte die Méduse im Juni 1816 als Flaggschiff eines Schiffsverbands von Rochefort nach Saint-Louis im Senegal, segeln. Aufgrund von Navigationsfehlern verlor sie den Kontakt zu den anderen Schiffen und erlitt auf der Arguin-Sandbank an der westafrikanischen Küste Schiffbruch. Da den 400 Passagieren und Besatzungsmitgliedern nur sechs Beiboote zur Verfügung standen, die nicht jeden aufnehmen konnten, blieben 17 Personen an Bord der gestrandeten Fregatte. Für 147 weitere wurde ein notdürftiges Floß konstruiert, das von vier der sechs Beiboote nach Saint-Louis gezogen werden sollte. Doch schon kurz nach der Evakuierung kappte ein Offizier das Verbindungsseil zum Floß, das daraufhin über 10 Tage steuerungsunfähig im offenen Meer trieb. Unzureichend mit Wasser und Lebensmitteln versehen, kam es unter dem Menschen auf dem Floß zu Kannibalismus. Am Ende überlebten nur 15 von ihnen. Die übrigen Beiboote erreichten die westafrikanische Küste und ihre Passagiere gelangten zu Fuß nach Saint-Louis.
Die Katastrophe erregte Aufmerksamkeit in ganz Europa. Die Inkompetenz des Schiffskapitäns, die schlecht durchgeführte Rettungsaktion und die unzureichende Aufarbeitung lösten einen Skandal aus, der das Ansehen der gerade restaurierten Bourbonenherrschaft schwer schadete.
Got it?
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PS Es gibt von Twitteruser @itsmeheidi_h eine ganz hervorragende Bild-Text-Strecke über einen Haufen kunstgeschichtlicher Details, die ich hier übergehen musste.
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