„Oskar Submerges“


Ab jetzt, Sept. 2023, monatlich eine Buch-, Film- oder Plattenbesprechung, vom Schmitzer.

In Izola, Slowenien existiert seit kurzem ein auf Export in den englischen Sprachraum orientierter kleiner Verlag. Von den bislang neunundfünfzig Einträgen in seinen Katalog haben, soweit überblicksweise erkennbar, nur drei irgendwie mit dem psychogeografischen oder literarhistorischen Raum Slowenien / Balkan / Istrien zu tun. Der Rest ist mit Nachdruck exterritorial, und wirkt in 2023 immer noch trutzig postmodern (will sagen: eine Ästhetik, die sich, obwohl die Bücher hochwertig gefertigt sind, an Neunziger-Zine-Kulturen orientiert, gibt Widerstand gegen den Siegeszug der Metamoderne erkennen).

Bei Durchsicht der Titel stellt der Eindruck sich ein, man wolle so etwas wie ein Raumschiff sein, das aus seiner distanzierten Umlaufbahn in jede beliebige Diskurslandschaft drunten auf dem Planeten Zeug beamen kann, zur Belehrung, Freude oder Verwirrung der Einheimischen. Dass chief editor Rick Harsch auch eigene Titel am Start hat, zuvorderst die drei Bände der anthological novel „The Assassination of Olof Palme, a people‘s novel“, könnte (sollte?) ein Alarmsignal sein, ist aber interessanterweise keines …

Seit wann genau jener Verlag existiert? – Einen guten Hinweis darauf gibt der Verlagsnamen „corona\samizdat“. (Und nein, da sind keine „maßnahmenkritischen“ Seuchenfreund:innen im Programm; C\S verbreitet sein „Samizdat“ nicht gegen, sondern verbreitete es ursprünglich mal halt während „Corona“). Knapp sechzig Titel also, in ca. drei Jahren: keinesfalls patschert.

Auch nicht patschert, sondern im Gegenteil eine Übung in außergewöhnlicher stilistischer Wendigkeit ist das Buch, das mich auf C\S zuerst aufmerksam gemacht hat. In seinem:ihrem Debütroman „Oskar Submerges“ bietet der:die Amerikaner:in Zachary Tanner klassisch-rhetorisch geschultes Stilvermögen auf, große Sensibilität und einen Anspielungsreichtum, der einige Belesenheit vermuten lässt, vor allem in der Prosa der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert (Freud und Proust drängen sich auf) und in den Sci-Fi-Pulp-Arkana der Sechziger-Siebziger. Der literarische Gegenstand, über den Tanner dieses Füllhorn leert, ist ein dicht synästhetisches, durchaus pornographisches Weltraum-Noir in einem Setting von psychedelischer Wucht:

Die Menschheit bewohnt das ganze Sonnensystem. Die Reisezeiten zwischen den Himmelskörpern jedoch, und die unterschiedlichen technischen Sachzwänge ihrer Besiedelung, resultieren in ebenso unterschiedlichen Kulturen. Unser Held, Oberschichtkind, Komponist, entscheidungsschwaches Genie vom Typus des blässlichen Intellektuellen, unzuverlässiger Erzähler, entflieht dem dysfunktionalen Eliten-Familiensystem auf dem Mars und tritt eine Stelle als Gebäudereiniger in einem Altersheim auf dem Jupitermond Europa an, also: auf dem Meeresgrund jenes Ozean-Mondes. Er schließt Freundschaft mit dem Maler Oskar, einem Klienten der Einrichtung, lernt durch Oskar allerhand Künstler – vor allem Musiker:innen – kennen, verliebt sich, erleidet Verwicklungen, verhält sich sozial, emotional und erotisch je nur so halb kompetent … Entwicklungsroman-Zeug eben; und dann war da noch was, seine Vorgeschichte betreffend.

Wir bemerken: unser Held bewegt sich von der Erde (der Sonne) weg, himmelwärts, nach den Sternen, und was er dort tut, ist zuerst mal unter- oder abtauchen. Aufwärts und auswärts, abwärts und einwärts – Gegenläufiges konvergiert hier. Klassische therapeutische Bilder, einerseits für‘s Ichhafte, für Selbst-/-Kontrolle und Sprachlichkeit, andererseits für‘s Es, für das Unbewusste, für Regress und Empfindung. Dazu passt dann, dass just auf Europa (und im Kontrast zu fast überall sonst im Sonnensystem) fast alle Leute, auch die uns eindeutig männlich und weiblich vorgeführten, beiderlei Genitalien haben. Unser Held, als Besitzer bloß eines Penis, findet sich unter seinen neuen Freunden in einer sozialen und erotischen Grauzone zwischen Hinterwälder und Exot.

Da liegt also ein Europa ohne Grenzen vor, oder zumindest ein Ort, wo diejenigen Dichotomien sich auflösen, aus denen die großen psychologischen Erzählungen gern ihre Zentralmetaphern bauen. Dazu kommt dann noch der Unterschied von Mensch und Maschine – das weibliche love-interest (in einer Beziehung zu einem Typen, der seinerseits in den Protagonisten verliebt ist, welchselbige Dreiecksromanze mehrere beachtlich genau und dabei sprachlich gar nicht peinlich ausgeschilderte Sexszenen zeitigt) bliebe auf den meisten anderen Planeten, Monden und Raumstationen das volle Bürger- oder selbst Menschenrecht verwehrt, wie uns erklärt wird: Nur auf Europa, unter allen Herrschaftszonen der Menschheit, sind synthetische Lebensformen völlig gleichberechtigt.

Zwischen den erwähnten Orgien, gelehrten Dia- und Monologen über Fragen der Kunst, psychotischen Episoden (s. o., „unzuverlässiger Erzähler“) und umfassenden Schilderungen von ästhetischer Erfahrung gibt es auch noch die eigentliche Handlung. Oskar führt mit dem Protagonisten auch uns Leser:innen in die wortwörtlichen Tiefen Europas. Klar, dass uns das an Vergil bei Dante denken lässt. Am Ende des Plots, der (natürlich) seine unklare Vorgeschichte berührt, steigt unser Komponist auch wieder an die Oberfläche Europas auf, sodaß der Vergleich mit Hölle UND Läuterungsberg aus der Divina Comedia sich korrekt anfühlt: Ab- und Aufstieg finden dem klassischen Schema gemäß statt; und dem Schema dieses im Wortsinne per-versen Buches gemäß sind ihre Bedeutungen vertauscht. Die Erlösung (der Orgasmus; die vollendete Komposition; die soziale Einbettung in einen Freund:innenkreis künstlerisch mindestens Ebenbürtiger) ist ganz unten, im Himmel zu finden; oben, Richtung Erdboden wartet die ererbte Schuld.

Ich gehe auf den Plot nicht genauer ein; er ist nebensächlich; es stört nicht, dass ein entscheidendes Detail wiedererkennbar (und vorhersagbar) aus dem Filmthriller „The Burnt Orange Heresy“ entlehnt ist: „Oskar Submerges“ liest man der bloßen Handlung wegen grade so, wie man in den Achtzigern-Neunzigern den Playboy wegen der Interviews kaufte. Der Punkt ist statt dessen das doppelt Synästhetische: zuerst, insofern Tanners Sprache raumgreifend von synästhetischen Erfahrungen handelt – die Musiken, Bilder, Texte samt den körperlichen Reaktionen auf dieselben schildert –, und dann zweitens, weil sie über weite Strecken ihrerseits die Grenzen beschreibender Sprache überschreitet und rhythmisch-klanglich-sinnlich reproduziert, wovon sie redet.

Den Text auf ein bloßes Manifest für ein Wiederdienstbarmachen des europäischen Bildungskanons (Europa!) fürs lustvolle Leben zu reduzieren – oder auf Propaganda für fluide Sexualität, die sich mit „Natur“ oder Identitäten nicht aufhält –, griffe dabei zu kurz. Er ist das sicherlich auch. Beides. Sein utopisches Substrat ist der Gedanke, wie vernünftig, wie praktisch und sexy es wäre, wenn eh alle potentiellen Partner:innen da draussen Fut und Beidl hätten. Aber „Oskar Submerges“ geht eben in seinem doppelten Programm nicht auf; will vielmehr, meiner Vermutung nach, schon am schlichten Unterhaltungswert, als Erfahrung gemessen werden (ist also zu allem Überdruss noch demokratisch! Meine Güte!).

Auf Zach Tanners Homepage finden sich statt einer „ordentlichen“ Bio hintereinander „the cover letter I wrote in 2015 to my undergraduate film school Capstone, which was a feature length horror screenplay“ und „finally, an excerpt from my never-to-be-published semi-autobiographical bildungsroman, Sticky-shed, titled “Baking Tapes”“. Er:sie produziert also eifrig. Das ist gut. Hoffentlich wird bei Gelegenheit wieder etwas fertig.

Die gleiche Homepage schweigt über Zachary Tanners Alter, aber er:sie sieht auf den Fotos dort jung aus. Deshalb ist die Bemerkung hoffentlich statthaft, dass dem:der jungen Autor:in etwas Bemerkenswertes gelungen sei:

„Oskar Submerges“ ist ein umfangreicher Roman, der genau nicht authentisch sein will, und der andererseits seine Kunsthaftigkeit und seine theorieweltlichen Voraussetzungen ausstellt, ohne zugleich in die universitäre Kunstdiskurswelt-Blase (was Brecht Kunscht nannte) zu gehören. Er erfüllt einander teilweise ausschließende Formzwänge (theoretische und ästhetische; solche, die der Genre-Fiktion entspringen und solche aus dem abendländischen Kanon) mit Eleganz. Beeindruckend.

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Links:

„Oskar Submerges“: https://coronasamizdat.com/index.php?id_product=26&rewrite=oskar-submerges-by-zachary-tanner&controller=product

Zach Tanner: https://zacharytannerbibliophile.art.blog/

Corona Samizdat: https://coronasamizdat.com/index.php?id_cms=4&controller=cms

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