Mangel


Der holländische Architekt Rem Kolhaas hat in einem Interview die Feststellung gemacht, es herrsche ein Mangel an Mangel. Treffender kann das derzeitige Dilemma nicht auf den Punkt gebracht werden, ein Dilemma in Gegenden wie Europa und USA und ein paar noch dazu, wohlgemerkt. In ziemlich vielen anderen Gegenden herrschen durchaus keine Mängel an Mangel. Und damit dieser Mangel bleibt, wo er herkommt, setzen wir alles in Bewegung, um einen nun schon Jahre dauernden Stillstand in der Evolution der Globalisierung einzuzementieren.

Ein paar Zahlen: Im Syrienkrieg wird die Zahl der Toten über den Daumen auf eine halbe Million geschätzt. Es wird gerne ein wenig gefeilscht, aber ganz ehrlich: wären 400.000 Leichen nicht auch ein wenig zuviel? Oder 200 000? Darunter alle Altersgruppen? Der syrische Krieg ist zur Zeit der Herzeigekrieg. Der gilt so halbwegs, die Leute sollen trotzdem bleiben wo der Pfeffer wächst. Weiters hätten wir da den Irak, Afghanistan, Nigeria, Somalia, Sudan. Dort geht es jeweils so rund, dass teilweise die Zahl der Toten seit Beginn der Kriege sogar in den siebenstelligen Bereich gehen, unter fünf ist gar nichts zu haben. In manchen Gegenden ist vermeintlich das Schlimmste vorbei, so richtig kuschelig ist es aber längst nicht. Es gibt tausende Quadratkilometer Krieg mit Millionen von Toten, und wer dort nicht bleiben will, soll einen Asylantrag nicht mehr in Europa stellen dürfen. Aha. Es wäre also davon auszugehen, dass, wer einen solchen Plan hegt, eine glänzende Idee gehabt haben muss, wie diesen Leuten auf anderem Weg geholfen werden kann. So ist es aber nicht.

Es stellt sich die Frage, woran es hier mangelt, wenn solche Ideen entstehen und niemand bei der Äußerung derselben vor Scham im Boden versinkt. Zuerst gebe ich Rem Kolhaas mit seiner Feststellung zu hundert Prozent Recht. Wo ganz viel ist, tut es viel mehr weh, ein paar Brösel abzugeben als dort, wo es ohnehin schon egal ist. Der überwältigende Teil der Flüchtenden hält sich in der Türkei, im Libanon, in Uganda auf, weiters in Pakistan, Äthiopien, Bangladesch, lauter Länder, die selber nicht aus dem Vollen schöpfen können, im Gegenteil. Aber dort ist es eben schon egal, denkt sich der kleine Mensch in Mitteleuropa, dessen Ausgaben und damit dessen Wirtschaftsrelevanz stetig steigen – nach dessen Maul wird politikgehandelt. Diese Wirtschaftsrelevanz hat seine soziale Kompetenz gleichzeitig abgehängt wie eine Mondrakete ein Dreirad. Der Verlust sozialer Kompetenz holt derweil mit voller Energie die so genannten Staatstragenden ein: Sie ignorieren nicht nur den Verlust letzter menschlicher Wertvorstellungen, wenn es so etwas überhaupt noch gibt, sondern sie helfen, das Gesicht des kleinen Mannes bei jeder (noch) verbalen Sauerei zu bewahren, indem die Ignoranz, Geringschätzung und systematische Kriminalisierung von Menschen in Not legitimiert werden.

Der Mangel an sozialer Kompetenz resultiert aus einem Mangel an Geschichtsbewusstsein. Auch wenn viele ein paar Gedichte aufsagen können, die mit Zahlen aus der Weltgeschichte lustig gereimt werden, etwa “Eins Vier Neun Zwei / Amerika schlüpft aus dem Ei”, täuscht es nicht darüber hinweg, dass keine Schlüsse gezogen werden oder die Reime eben nur Reime bleiben. In der Schule wird nicht wesentlich mehr gelehrt als Zahlen, Fragen sind oft nicht so gefragt. Die ursprünglichen Amerikaner, denen damals aus der aus europäischer Sicht Unterentwicklung geholfen wurde, sind überschaubar dankbar für die Erlösung ihres unprofitablen Daseins, sowas aber auch, dabei wurden aus einem anderen Kontinent viele willige Gastarbeiter extra importiert. Der Herkunftskontinent dieser Gastarbeiter wurde ebenso mit dem Lineal zerteilt und es wurde und wird eifrig geholfen, dass die amen Teufel dort nicht alleine ihre Reichtümer verbrauchen müssen.

An historische Eselsbrücken in Reimform halten sich viele auch heute noch, die sind aber geheim. “Eins Neun Drei Drei / niemand war damals dabei”. Oder “Eins Neun Drei Acht / jetzt wird Ordnung eingebracht”, gefolgt von “Eins Neun Drei Neun / man kann´s den Polen nicht verzeih´n”. Einen Reim aus den Vorkriegsjahren kann man wieder hervorholen, er lautet: “Hahnenschwanzler, Hahnenschwanzler, bist ein armer Tropf / was der Hahn am Hintern trägt, trägst du auf dem Kopf”. An Reimen mangelt es nicht. Eifrig wird an einer neuen Heimwehr gebastelt, diesmal an einer europaweiten. Hui! Und siehe da, es sind die selben Protagonisten wie damals. Wenn wir schon beim Gockelhahn sind, ist uns auch der Eisvogel aus der Ornithologie bekannt. Ob sein Name seiner Farbgebung geschuldet ist oder einer knallharten Marketingorientierung ist unbekannt.


[…]Die Oberseite wirkt je nach Lichteinfall kobaltblau bis türkisfarben; auf dem Rücken befindet sich ein leuchtend blauer Streifen, der besonders beim Abflug auffällt.

Stimme

Der kurze, scharfe Ruf des Eisvogels klingt wie „tiht“ oder „ti-it“, das bei Erregung zu „tih-tih“ oder „tit-tit-tit“ abgewandelt wird.

Bei Erregung klingen die Rufe fast stimmlos „krrikrrtkrrt“. Zur Balz sind Eisvögel besonders ruffreudig und wandeln ihre Rufe geringfügig ab. […] Zur Verständigung mit den flüggen Jungen verwenden Eisvögel Frage-Antwort-Rufe. Altvögel kündigen sich mit einem kurzen „tieht“ an und Jungvögel antworten mit „tschik“. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Eisvogel)


Schön, wenn im Tierlexikon treffende Analysen zu politischen Lagen aufgeschrieben stehen, kann man sich wichtigeren Dingen zuwenden, eben der Geschichte. Und seinen verborgenen Reimen. Das Lied von den zehn kleinen Negerlein ist ja nicht ganz verborgen. Beim Nachschauen im Netz stößt man dabei auf eine Band mit dem originellen Titel Zillertaler Türkenjäger. Es ist schon eine Weile her, sie haben in den 1990er Jahren produziert. Was da rausgekommen ist, kann man sich ausdenken. Jedenfalls hatten sie nicht ausreichend Inhalt in den Unterhosen, dass sie sich gezeigt hätten. So sollte es auch bleiben, sie haben in ihren Unterhosen wohl immer noch nur einen Beistrich zum Herzeigen. Die Fässer sind zum Bersten voll, irgendwann muss es raus. Es quillt dann über. To ooze ist ein schönes englisches Wort dafür, es wurde mir so erklärt: wenn ein zu fetter Fuß zum Beispiel aus einem viel zu engen Schuh eher unvorteilhaft hervorquillt, nennt man das to ooze. Zu wenig Platz einfach, es muss raus. Gallertartige Masse. Aus Gesangsbüchern, aus der schrecklichen Enge, nicht jeden Mist sagen zu können, aus der Seele. Das hat ein junger Übermalermeister gemeinsam mit einem Fliegenträger gut erkannt, sie bereiten den Boden für jede Unappetitlichkeit akkurat auf. “Zwei null null null / als Dritter flugs zum Kanzlerstuhl”, “Zwei null eins sieben / rechts die Zukunft, meine Lieben!”

Die Fußballkommentatoren des WM-Finalspiels im deutschen als auch im österreichischen Fernsehen hätten unüberhörbar lieber Kroatien als Weltmeister gesehen. Frankreich war ihnen vielleicht optisch zu international, nicht zuzuordnen. Zu schwarz. Dass Nigeria gegen Argentinien mit viel Hilfe der Schiedsrichter rausgeflogen ist wurde dagegen nicht festgestellt. Das sind natürlich Interpretationsfragen. Jedenfalls haben diese Sender die Könige des Kommentars fürs Finale abgestellt, beim ORF im wahrsten Sinne des Wortes. Es war jeweils fast unerträglich und tendenziös. Das wird aber nicht mehr gehört. Zu brutal oozet der Mainstream des nationalen Unsinns durch die Welt. Die Globalisierung verläuft diametral gegensätzlich zur psychischen kulturellen Belastbarkeit durch den materiellen Überfluss, der die letzten 50 Jahre zur Selbstverständlichkeit eingesickert ist und die Wahrnehmung verklebt.

Ich erlaube mir, aus einem Posting in einer österreichischen Tageszeitung ein Zitat von Gerhard Bronner zu notieren:

“Es gibt drei Dinge, die sich nicht vereinen lassen: Intelligenz, Anständigkeit und Nationalsozialismus. Man kann intelligent und Nazi sein. Dann ist man nicht anständig. Man kann anständig und Nazi sein. Dann ist man nicht intelligent. Und man kann anständig und intelligent sein. Dann ist man kein Nazi.”

Soviel zu den Entrüstungen, wenn sich unsere Politiker zu Unrecht ins Nazi-Eck gedrängt fühlen. Und noch etwas: Kein anständiger und intelligenter Mensch kann so viel saufen, um das nüchterne Niveau von manchen Regierungsmitgliedern zu erreichen.


 

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