Lebenserfahrungen


Michail Bulgakow, ausgebildeter Arzt, schreibt in seinen “Arztgeschichten” gleich zu Beginn in seinem Ärger, stets als Student wahrgenommen zu werden aufgrund seines jungen Alters folgendes: “Ich muss mir eine Brille zulegen, jawohl. Aber diese Anschaffung hatte keinen Zweck, denn meine Augen waren gesund und noch nicht von Lebenserfahrung getrübt.” Was für ein Satz. Viele Augen strahlen aus mangelnder Lebenserfahrung noch klarer als des Alpenbächleins frohe Zielstrebigkeit nach unten in die Tiefe. Alter schützt vor Torheit nicht, was häufig eindrucksvoll bewiesen wird. Jugend entschuldigt aber auch nicht jede.

Weiters heißt es in jener Arztgeschichte: “Da mich somit keine Brille vor freundlich herablassendem Lächeln schützte, trachtete ich, mir achtungsgebietendes Gehaben anzugewöhnen.” Michail Bulgakov hatte als Satiriker unbestritten die Fähigkeit zu Selbstironie, die kommt mit Lebenserfahrung einher, manche haben sie schon in jugendlichem Alter, manche sind ganz und gar ungefährdet, Selbstironie jemals zu entwickeln. Von Selbstkritik reden wir gar nicht. In meiner Tätigkeit als Zivildiener, mit 27 Jahren, begegnete ich Jugendlichen aus teils fürchterlichen familiären Umfeldern, ihre Lebenserfahrungen übertrafen allesamt meine eigenen. Mehr gelernt als in diesem Jahr habe ich kaum, weder vorher noch nachher. Es haben sich viele Dinge relativiert. Höchster Respekt vor diesen Menschen trägt diese Erinnerungen.

Überhaupt bereiten zur Zeit Kinder und Jugendliche große Sorgen. Nicht, dass sich jemand ernsthaft für sie interessierte, sie müssen halt irgendwie mitgehen in dieser merkwürdigen Zeit, und eine der Hauptsorgen, um die sich alles dreht, sind, nein, noch immer nicht sie selbst, sondern Lehrpläne, die nicht erfüllt werden könnten. Die Lebenserfahrungen, die gerade gemacht werden, stehen nicht in Lehrplänen. Für die meisten werden sie zumindest prägend sein, für sehr viele wohl ganz in Ordnung, für manche schrecklich. Und ich denke, dass sich einige sehr gut in Erinnerung behalten werden, wie wahnsinnig egal sie unserer Gesellschaft und Politik waren, vollstes Verständnis, wenn sie uns das lange nachtragen. Die Rangliste der Interessen lautet Möbelhaus, Autohaus, Baumarkt (für den ich übrigens am ehesten Verständnis habe), Fluglinien, Geschäfte über 400 Quadratmeter (wie immer ein Gefahrenunterschied bei unterschiedlicher Anzahl an Quadratmetern aussehen soll), Wirtshäuser, warum waren eigentlich die Tankstellen immer offen? Irgendwann unter “ferner liefen” Schulen, Kindergärten, Krippen. Jetzt wird noch die Sauna diskutiert. Im Sommer.

“Ich versuchte, gemessen und gewichtig zu sprechen, hastige Bewegungen nach Möglichkeit zu vermeiden und nicht zu rennen wie ein Dreiundzwanzigjähriger, der die Universität gerade hinter sich hat, sondern zu gehen.” Die Geschichte handelt von einem jungen Arzt, der eine Stelle in einem Krankenhaus irgendwo in Russland anzutreten hat. Er tritt in die Fußstapfen eines offenbar großen und viel geachteten Arztes und Chirurgen. Alleine als einziger Arzt, ohne große Erfahrungen. Er fürchtet die Konfrontation mit Brüchen und Geburten, sein erster Notfall übertrifft aber alle Befürchtungen. Die Tochter eines Bauern war in die Flachsbreche geraten, ein Bein Brei bis zum Knie. Weltweit ist vor allem die Wirtschaft in die Flachsbreche gekommen, hören wir in den Nachrichten und lesen wir in den Zeitungen. Ja, die Wirtschaft. Die Menschen und die Kultur sind nicht so wichtig, aber wie soll jemandem etwas wichtig sein, wofür jemand sich insgesamt nicht interessiert? Es scheint sich die Ansicht durchgesetzt zu haben, dass Menschen, die das tun, was sie gerne tun, nicht arbeiten. Der grüne Schimmer dieser Ignoranz schmerzt zusätzlich. Türkisgrün bläst es kühl durch das Land. Gleichzeitig formiert sich Widerstand gegen Massnahmen, die ergriffen wurden, um sich gegenseitig zu schützen, er wird als Zivilcourage missverstanden. Es sind nicht allzu viele, aber sie sind laut und erzählen eine ganze Menge Unsinn.

Der junge Arzt sieht das völlig zerquetschte Bein mit Entsetzen vor sich, der assistierende Feldscher geht von einem raschen Tod der jungen Frau aus, der junge Arzt wünscht ihn sich in seinen Gedanken herbei, auf dass der Wahnsinn ein rasches Ende haben möge. Ein rasches Ende der Einschränkungen wird hier auch herbeigesehnt. Eine plötzliche Aufhebung des Lockdowns birgt nicht kalkulierbare Risiken, aber die Wirtschaft verlangt es. Aktiengewinne wollen ausbezahlt werden, von Unternehmen, die staatlich unterstützt werden. Es bleibt vorsichtig zu bezweifeln, dass alle Menschen ein Gefühl dafür entwickelt haben, wie diesem Phänomen mit ausreichendem Respekt und einem vernünftigen Quantum Skepsis zu begegnen ist. Dass eine Maske zum Schutz anderer getragen wird, ist nicht allgemein verstanden worden. Dass der Zeitpunkt suboptimal für fette Dividenden sein könnte, wurde auch nicht kapiert.

Eine Krankenschwester raunt dem jungen Arzt, der plötzlich umlenkt und Kampfer fordert, zu, er möge die Frau nicht länger quälen, “bestimmt bleibt sie gleich weg”. Wütend wiederholt er: “Ich hatte um Kampfer gebeten.” Nicht immer sind Beratungen richtiger Natur, aber die Hierarchie ist ohnehin klar definiert. Im Kopf des jungen Arztes wurde es plötzlich hell, er handelte instinktiv. Von Instinkt ist momentan nichts zu verspüren. Ein guter Instinkt wird in unserer Zeit mit einer sauberen Marketinganalyse verwechselt, nach welcher Entscheidungen zu treffen sind. Mit einem guten Gespür hat das alles nichts mehr zu tun, zu weit entfernt ist die normale Bevölkerung für Personen, die in geschützten Parteiapparaten aufwachsen und außerhalb niemals tätig waren.

Dem jungen Arzt steht der nächste Fall bevor: Eine Frau in Wehen, das Kind in Querlage. Er versucht, sich an die Fachbücher zu erinnern, wirft noch einen Blick hinein, übrig bleibt ein Wirrwarr in seinen Gedanken. Beim Händewaschen erzählt ihm die Hebamme in zehn Minuten alles, was wichtig ist. Alles, was sein Vorgänger in solchen Fällen zu tun pflegte. Er sog die Beschreibungen in sich auf, alles ist plötzlich völlig klar, sämtliche Fachbegriffe aus den Büchern bedeutungslos. Gleichwohl bildet die Ausbildung eine Grundlage, ohne die aus all diesen Eingriffen nichts geworden wäre. Der Antrieb des jungen Arztes war, Menschen zu helfen. Die Frau und ihr Kind überlebten. Der ersten Patientin wurde das Bein amputiert, sie verließ zweieinhalb Monate später auf Krücken die Klinik, in Erwartung einer Beinprothese. Es sprach sich schnell herum, dass er ein guter Arzt ist, die Schwestern, Hebammen, der Feldscher hatten großen Respekt vor ihm. Er blieb bescheiden, räumte stets die Möglichkeit eines Rückfalls ein.

Österreich hat ein Tal in Querlage, wäre aber von der EU aus erreichbar, glaubte ich in grenzenloser Naivität. Es war anscheinend knapp davor, geboren zu werden in ein anderes Land hinein oder gar in einen anderen Kontinent, es musste dringend behandelt werden, der Arzt der Nation musste sich dringend darum kümmern, kündigte sich an und hat nicht damit gerechnet, dass der Patient ihn erwarten würde, obwohl ja die Visite Tage vorher angekündigt wurde, mit dem Wunsch, alles für den Eingriff vorzubereiten. Der Patient war aufgewühlt, rannte wirr umher. Die Journaille machte einem sauberen Eingriff einen Strich durch die Rechnung, die Angehörigen des Patienten waren aufgeregt, wochenlang mussten sie eingesperrt der Dinge harren, endlich traf Hilfe ein, und dafür müsse Verständnis aufgebracht werden. Ob es ein Fehler gewesen wäre, überhastet mit gründlicher Vorbereitung den Eingriff durchzuführen, möge als solcher gesehen werden, wenn man es denn so will, aber es war, wie gesagt, nicht damit zu rechnen, dass der Arzt eintreffen würde, nachdem er sich angekündigt hatte. Alle Lehrbücher zogen zum einen Ohr hinein und zum anderen ohne Diplom wieder hinaus wie die tausend berühmten Schmetterlinge im Bauch, als das Volk jubelte und auf den auf Abstand zum Eingriff gemahnenden Arzt mit Lachen reagierte, so groß war die Freude. Der Feldscher weiß nicht recht, was er dazu sagen soll. Die Hebammen werden nicht gefragt und sagen von selbst nichts dazu.

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