Im Rahmen der KiG!-Küchengespräche
in einer Adaption von und mit Dorothea Steinbauer
November. Während gerade ein Fake News-Stück in Graz seine Premiere vorbereitet, erlebt ein anderes Stück seine Aufführung. „A und X – eine Liebesgeschichte in Briefen“ von John Berger. Der Spot, diesmal von der Volkshausterrasse, trifft die kleine Bar im 2. Stock, wo sonst Küchengespräche stattfinden. John Berger, als „radikaler Humanist“ bezeichnet, hier nun Schöpfer eines totalitären Staatengebildes, spielte nicht mit Fake News, sondern schrieb sich in mehrere Dimensionen weiter. Da treten die Brieftexte A´idas aus der 2,5 x 3 Meter großen Gefängniszelle Xaviers hinaus, über die 4 Meter Raumhöhe nach oben – Hoffnung und Erwartung, von Anfang an Körper und Seele gebunden. Von dort, aus der Erinnerung, steigt ein kleiner, einmotoriger Zweisitzer auf, sehnsüchtig, aus der noch zuvor nach vorne gebeugten Erinnerung. Liebe in Zeilen des Krieges. Auf der Bar die schwarze Schachtel mit der blass-weißen Kreidehandschrift: „Zelle 73“. Darin Utensilien aus der 2-mal lebenslänglichen Haftzeit, zu der Xavier verurteilt wurde, – und genau von hier aus starten A´idas Erinnerungen.
Aus eben diesen letzten persönlichen Dingen Xaviers und Briefen A´idas schafft Dorothea Steinbauer eindrücklich, was John Berger vorhatte, eben die Raummenge, das räumliche Verhaftetsein, zu verlassen. Aus der in den Briefen manifestierten Liebe heraus wird sprachlich jeder Raum famos von Dorothea Steinbauer bespielt. Dabei nennt Xavier A´idia „mein Flügel“. Xavier, der als Kind schon Radios zusammenbaute, Kabelanschlüsse technisch überprüfte, während von draußen die Schüsse der Bastarde nachhallen. Mein Licht, arabisch „Nur“, wird zum Anruf der getrennten Liebenden, während Xavier mit A´ida zum poetischen Kunstflug aufsteigt. Sie empfindet seinen Looping körperlich erotisch, eine Näherung in die horizontale Einheit hinein – im 360 Grad Flug. Xavier flog diesen Looping in A´idas Körper. Sein letzter Flug in Freiheit – und ihr Erster. Viele Briefe „flogen“ nach seiner Verhaftung dann analog hin und her. Und nie wusste A´ida, ob ihre Briefe bei ihm in der Zelle ankommen würden; dennoch gewährte sie mit den ihren der Hoffnung Zukunft. John Berger vereint hier human-pazifistisch Kampf und Gewalt. Und A´ida legt ihre Hand auf den Brief, um Xavier in seiner Zelle zum Lachen zu bringen. Sie hegt die Hoffnung, dass wenigstens 4 der 12 Seifen bei ihm ankommen würden.
Allein das Anlegen ihres Fallschirms macht sie nackt vor ihm. Dabei kann sie Xavier in ihrem Kopf hören, ihn in ihrem Mund spüren. Die Liebe, handschriftlich und körperlich verinnerlicht, jene Stille, die nach dem nächtlichen Hundegebell eine mächtige Stille erzeugt – Xaviers und der Gefangenen allmächtige Stille. Dabei ist es eine von A´idas alten indigenen Gesangslandschaften, welche die sie umkreisenden Panzer in die Flucht schlägt. Sie, die Apothekerin, die tiefsitzende Kugeln aus dem Fleisch der Angeschossenen schneidet. Ihre Heilkunde rührt an Mutterschaft – und ein Geheilter ging wie einer, der es gewohnt war, davon zu kommen.
John Berger war offensichtlich von totalitär militärisch geführten Diktaturen des Kalten Krieges geprägt; – ein kalter Krieg, der gerade allgegenwärtig als Gespenst über den Horizont kriecht. Menschen verschwinden damals wie heute in Hochsicherheitstrakten einer Junta, die auf totale Überwachung und Gewalt setzt. Jeder steht unter Terrorverdacht. Notverordnungen, Ausnahmezustände bis hin zum Kriegsrecht. John Berger schaffte einen Gegenpol zu einem angstgeprägten, militanten Sprachverlust des gegenwärtigen 21. Jahrhunderts. Die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in Einklang zu bringen – das ist Leben! John Berger und Dorothea Steinbauer versetzen die Zuschauenden, gerade hierher, an diese intime Bar, wo nicht die Hoffnung zuletzt stirbt, sondern die Liebe. Doch die Liebe in Worten zwischen Xavier und A´ida stirbt niemals, dort wo Ibn Arabis Liebesmystik inmitten einer Myriade unsichtbarer Engelshierarchien im Raum schwebt. Und diese Engel könnten auch durch Gefängniswände treten und Gefangene befreien. John Berger wusste davon und schenkte allen Gefangenen Hoffnung und Liebe zugleich. Gleichzeitig enttarnt er die Lüge. Denn erst die Lügen, die wir uns aufhalsen, machen uns zu Wiederholungstätern. Berger hält uns demonstrativ nicht das Haus der Lüge vor, er bleibt nahe an den Erzählungen seiner Protagonist*innen. Und dort wird die systematische Verlogenheit sichtbar, wie die Notwenigkeit des Stückes selbst: „Die Ewigkeit braucht mich, euch, alle!“
Und aus der unüberbrückbar scheinenden Distanz flüstert ihre Handschrift „halte meine Hand. Ich küsse die Narben auf deinem Handgelenk.“ Ein poetischer Kuss, der sich wahrlich für politisches Engagement einsetzt.
Mit Dorothea Steinbauer; Einrichtung: Wolfgang Dobrowsky
Offene Termine: 01.12.22, 02.12.22 jeweils um 19:30