Ganz einfach ist schwierig


Es ist so schwierig, ich bin voll das Opfer. Wiglaf Droste hat in einem wunderbaren Radiobeitrag die Bemerkung einer jungen Frau zu ihrer Freundin zitiert, die über ihren Freund jammerte. Beide Frauen waren mit einem so genannten Migrationshintergrund ausgestattet, so ungefähr nannte es Droste, und die zuhörende sagte in der Strassenbahn schließlich vorwurfsvoll: „Du bis ja voll die Opferin!“ Was Droste veranlasste zu widerlegen, dass sich die zweite oder dritte Generation von Immigranten nicht integrieren wolle, im Gegenteil, solche Wortkreationen ließen auf eine ziemlich hohe Identifikation mit einem Land schließen.

 

Ich will keine Migrationsdebatte abfeiern, sondern meinen Integrationsgrad analysieren. Genau, meinen Integrationsgrad, das sollten alle einmal versuchen. Zuallererst bin ich Opfer. Beim Saufen und Blödsein hat mich niemand aufgenommen, ich bin also nur ein kleines Opfer. Viele Dinge haben sich so schnell entwickelt, dass es sich anfühlt, als lebte man in einem fremden Land. In welchem ich mich gerade befinde, weiß ich schon länger nicht mehr. Ich fühle mich abgehängt. Von oben herab vermeinte man Blätter fallen zu sehen wie Beteuerungen, etwas niemals annehmen zu wollen, um plötzlich auszurutschen auf den glitschigen Steinen bereits angenommener Dinge, viele kleine, vom Laub nur unzureichend bedeckt. Nein, ich hab’ s nicht! Das haben in der Kindheit jene beim Fangenspielen gerufen, die versucht haben, die Rolle des Fängers einfach nicht anzunehmen und trotzdem im Spiel bleiben zu wollen. Das hat aber niemand geschafft, da wurde deutlich korrigiert oder ausgeschlossen, solange, bis der Wille wieder da war, die Regeln einzuhalten oder die Zeit der Einsamkeit zu lange wurde. In unserem Land geht das wie selbstverständlich, können Sie mir sagen warum? Da habe ich großen Nachholbedarf, ich bin sehr neugierig, wie der Aufgabenkatalog aussieht, der aus mir wieder einen waschechten Österreicher macht. Ein paar Sachen vermute ich zu wissen, scheitern könnte es am Vergessen. Ich werde die richtigen Sachen vergessen müssen und mir niemals die falschen merken dürfen.

 

Ich habe mich gesehen und festgestellt: Das bin nicht ich. So weit möchte ich nicht kommen, aber vielleicht ist das das ultimative Ziel, irgendwo hinzukommen und sich dann nicht mehr zu erkennen. Das ist eine interessante Beschreibung von unbestreitbaren Dokumenten und lässt uns die Frage stellen, ob der Mann, der sich nicht erkannt hat, sich deswegen nicht erkannt hat, weil er dort besoffen war oder ob er sonst immer völlig besoffen ist, dass er sich dort, wo er eigentlich gar nicht so besoffen war, offenbar trotz mehrmaligen Anschauens nicht erkennen kann; eine Tragödie bleibt das in jedem Fall. Ein paar werden sich immer finden, die ihn wieder erkennen werden. Ich meine, dass, wenn schon ich mich freiwillig einem Integrationscheck unterziehe, dieser Mann längst fällig wäre für einen. Zwei Herren, denen der siebenstündige Film zugespielt wurde, haben ein Buch darüber geschrieben, aus dem besagter Hauptdarsteller schließt, dass dieses Buch ihn quasi von aller Schuld befreit. Ich vermute, dass das Buch nicht gelesen werden muss, um zu ahnen, dass der arme Mann sinnerfassend nicht lesen kann. Oder er besitzt die Größe, den Inhalt dieses Buchs als nicht existent zu erklären.

 

Etwas als nicht existent zu bezeichnen können andere wesentlich besser, allerdings ist diese Jugendbewegung gerade drauf und dran, das größte Opfer aller Zeiten zu werden. Ihre Daten wurden gehackt und geklaut. Sie bezeichnen das als Angriff auf die Demokratie. Diesmal waren sie selber nicht dabei. Ihren eigenen Angriff auf die Demokratie mit Menschen, die sich sieben Stunden lang nicht wieder erkennen, haben sie vergessen oder eher noch nicht erkannt, ich habe es leider nicht vergessen, das war ja gerade erst, das könnte schwierig werden mit meiner Reintegration. In anderer Leute Daten herumzuschnüffeln ist genauso verwerflich und illegal wie ein Einbruch, gibt es nichts zu diskutieren. Gleichzeitig scheint mir dieses Delikt trotzdem ein Angriff auf eine Partei und nicht auf die Demokratie an sich zu sein, da ist wohl jemand neugierig geworden, nachdem kurz vor der Erstausstrahlung des Films des Jahres ein besonders geschickter Schlaumeier Festplatten zerstören ließ, unter falschem Namen, dafür ohne zu zahlen. Das Wort “schreddern” hebe ich mir auf, weil es so schön ist und irgendwann in der Variante “Selbstschredderung” auftauchen müsste, aber dafür sind hier zu viele zu gut integriert.

 

Das werde ich alles vergessen müssen, wenn noch etwas werden soll aus mir in unserem Land. Aber was darf ich mir merken? Nur das Gesagte? Das Versprochene? Und woher kommt überhaupt das Wort Versprechen? Meint das nicht auch das Versprechen im Sinne von falsch sagen?

 

Ich habe mich immer gewundert, warum die kleine Spendenkasse in der Kirche Opferstock heißt, nun weiß ich es. Früher waren dies oftmals aus hohlen Baumstümpfen hergestellte Gefäße, das passt gut. Große Teile unserer jüngsten politischen Vergangenheit sind ein großer Opferstock. Innen ausgehöhlt, Geld fällt hinein, vergelt’s Gott, eine Hand wäscht die andere, und wenn ein Moped kein österreichisches Kulturgut ist, was denn dann? Die Erinnerung ist sicher keines. Die Erinnerung an Handlungen und Maßnahmen gibt es nicht, nicht aus den letzten eineinhalb Jahren, das erspart ein wenig Anstrengung. Es ist vor allem versprochen worden, und diese Versprechungen hatten bis jetzt einmal noch nicht so große Auswirkungen. Krankenkassen sollten reformiert und was weiß ich noch werden. Ein Experte, der rechnen kann, bat das Land, sämtliche Zahlen, die jemals in diesem Zusammenhang und als Ersparnis genannt wurden, einfach zu vergessen, weil sie völliger Unsinn wären, die brauchen wir uns also nicht zu merken.

 

Und so suche ich weiter nach dem Anker, nach dem Halt, der mich heim ins Land führen könnte. Selbst beim richtigen Vergessen und Erinnern wird es schwer gemacht. Zu groß sind die Störgeräusche, wie die Opposition unter anderem genannt wurde. Glaubt man kurz, den Glauben gefunden zu haben, taucht etwas auf, das die Zufriedenheit und Ruhe irritiert, die am besten, wie es die eigene Vergangenheit und das Land in der östlichen Nachbarschaft bewiesen haben, eine starke Figur anführen soll, die uns zeigt wo es lang geht. Allein, jener, der es hier für sich beansprucht, hängt an einer Schnur mit Schlaufen, an die ich mich erinnere in meiner Kindergartenzeit. Zum Spazierengehen angehängt quasi. Geht er allein, ist er verloren. Er fragt dann ältere Menschen, ob sie gegessen hätten, das fällt ihm ein, wenn er keinen Souffleur im Ohr stecken hat oder keinen Katalog vorab zugesteckt bekommen. Haben Sie gegessen? Hatten Sie Stuhlgang am letzten Wahltag?

 

Ich hatte in einer Arbeit als Betreuer einen Klienten, der kennt sich bei Schlagern und Liedern aus, bei Fernsehserien, er kennt alle Figuren der Simpsons. Fragte man ihn kurze Zeit nach seiner Ankunft, wie und mit wem er gekommen sei, konnte er es nicht mehr beantworten. Wir sind immer noch Freunde, auch wenn wir uns nur selten sehen. Ich sollte bei ihm Nachhilfe holen. Er ist im Übrigen zweisprachig. Nach einem Gespräch mit einer Frau auf slowenisch fragte ich ihn, worüber sie gesprochen hätten. Er wusste es nicht mehr oder konnte es mir einfach nicht sagen, jedenfalls hatten sie ein fröhliches Plaudern. Dieser junge Mann lebt ausschließlich im Hier und Jetzt. Für solche Menschen gibt es Betreuung. Er hat, wenn ich es hinterher betrachte, vorweggenommen, wie die zur Zeit wahrscheinlich gewinnen werdende Partei tickt, die stets regiert hat, aber nur selten dabei war. Er beschrieb es anhand eines Politikers des benachbarten Bayerns. „Mein Cousin heisst Branko. Der Edmund Stoiber heißt auch Branko.“ Es sind mehrere Personen in einer versteckt, eine ist immer dabei, während ein paar andere wegschauen. Dass das nicht als Alibi funktioniert, ist ein Trugschluss. Es funktioniert, das ist ein wenig schaurig und erinnert vielleicht an Stephen King, vielleicht aber auch an die Zeit, als Propaganda zur Hochblüte fand.

 

Nein, ich werde – noch – keinen Vergleich mit der Nazizeit ziehen. Auf stets hässliche, stets pietätlose, stets widerliche Weise hat die zerplatzte Regierung die Erinnerung an diese Zeit schon selbst bewerkstelligt und so das Vergessen unmöglich gemacht, zumindest. So wird es zum Glück nicht gelingen, Dinge zu löschen. Wie weit mein Weg zum besseren Österreicher gedeihen kann weiß ich nicht. Ein spektakuläres Scheitern scheint unausweichlich, aber will ich es denn überhaupt? Mich reintegrieren? Oder wurde ich überhaupt desintegriert? Fehlt mir nur der Neid? Mir fehlt der Neid nicht, im Gegenteil, ich beneide niemanden, ich würde sogar vieles von meinem Mitleid mit jenen hergeben, die wieder an die Macht kommen und uns in ein oder zwei Jahren wieder zur Urne schicken, weil sie einmal mehr über sich selbst stolpern werden – wenn das Mitleid denn jemand wollte. Wenn man den Kanzlerposten in einem Witzboldland, größenmäßig, wie Österreich überhaupt als Macht bezeichnen kann. Der Klagenfurter Minimundus fiel mir immer ein, wenn das ehemalige Kanzler- und Vizekanzlergespann vor Mikrophone trat. Die Hofreitschule beim Innenminister, mit Ponys, unauslöschliche Bilder. Es funktioniert nicht einmal die Spaltung des Landes in der Schlichtheit, die die ehemalige Regierung mit einem Altkanzler, der vor allem mentale Schlichtheit verkörpert, gerne hätte und an der die Ungläubigen Schuld trügen. Die Schuld an der Spaltung, an der Schlichtheit ist niemand anderes schuld als die schlichten Gemüter selbst, zumindest das werden sie niemand anderem umhängen können. Wo kein Inhalt, ist es schwer, etwas oder jemanden zu mögen oder nicht. Ich fürchte zuallererst die Kraft der Gleichgültigkeit.

 

Die Furcht vor der Gleichgültigkeit wird hoffentlich immer genug Kraft geben, sich aufzuregen. Wach zu bleiben, ohne Hysterie. Die Steiermark hat aufgesteirert, die Menschen um den Mann, der sich nicht mehr kennt, dort einen Parteitag abgehalten. Ein ehemaliger Innenminister, der mit einer Werbeagentur namens „Textacy“ in Zusammenhang gebracht wird, erzählt dort in wahnsinnig primitiven und vor allem unfassbar schlechten Wortkreationen, dass er vielleicht ein interessanter Fall für die psychiatrische Forschung sein könnte, fiele einem nicht Hanna Arendt ein im selben Moment, die die Banalität des Bösen beschreibt. Und ja, dieser Vergleich mit der Nazizeit darf so stehen bleiben. Es gibt auch eine Banalität der Dummheit. Es wurde schon einmal im deutschsprachigen Raum über Idioten gelacht, solange, bis dank einer flächendeckenden Begeisterung für die Erniedrigung anderer Mitmenschen samt unvergleichlicher Gleichgültigkeit systematischer Massenmord Programm wurde. Auch daran erinnere ich mich, auch wenn ich es nicht selbst erlebt habe. Die Entdeckung Amerikas habe ich auch nicht erlebt und weiß es trotzdem.

 

Mit diesen Banalitäten, die in diesem Land als Einzelfälle bezeichnet werden, hat die Partei einer merkwürdig definierten Mitte keine Probleme, auch wenn Nebelgranaten den Anschein zu erwecken versuchen, dass es ihnen nicht gefällt. Die eigene Glaubwürdigkeit sabotiert diese Partei täglich, sie führt einen Wahlkampf, der das Thema Migration gleich unappetitlich behandelt wie der ehemalige kleine Koalitionspartner. Es gelingt mir nicht, dies zu übersehen oder zu vergessen. Ich brauche dafür auch keine einschlägigen Medien, um das zu erkennen, und sehr viele andere auch nicht. Die Ankündigung, Spenden nicht anzunehmen, und die Information, dass Spenden bereits angenommen wurden, erübrigen einen nicht vorhandenen Wahrheitsgehalt der ersten Aussage. Das also ist die wahre Natur eines Versprechens, ich deute es offenbar richtig. Davon gibt es unzählige Beispiele. Damit kommen Menschen offenbar blendend zurecht, die sich als konservativ bezeichnen und ständig von Werten reden. Die österreichischen will der Altkanzler retten. Ich erinnere mich an einen verurteilten Fußfessel- und Kofferträger für einen ehemaligen Landeshauptmann, der hat befürchtet, dass die Kreuze auf den Gipfeln Halbmonden weichen müssten. Die Gefährdung des österreichischen besteht offenbar in der Zerstörung der Schlichtheit, die sorgfältig seit geraumer Zeit hergestellt wird, und dass herauskommen könnte, dass gelogen und betrogen wird, dass sich die Balken biegen. Dafür bräuchten wir keine zugezogenen und geflüchteten Menschen zu beschuldigen, uns die Tracht vom Leib zu reissen.

 

Ich gebe auf, ich bleibe gut abgehangen abgehängt. Ich darf aber wählen gehen, noch. Die Demokratie, von der gerade jene ständig sprechen, die sie lediglich dann gefährdet sehen, wenn jemand gemein zu ihnen selbst ist und damit den Beweis liefern, sie grundsätzlich nicht verstanden zu haben, erlebt harte Zeiten. Demokratie ist Arbeit und erfordert Denken. Beides ist, zumindest bei den ehemaligen Regierungsparteien, nicht populär und verbreitet, es ist zu kompliziert, darum wollen sie alles vereinfachen, um es selbst endlich in begreifbare Niederungen herabzusetzen, wo sie in die Nähe von Verstehen kommen könnten. Marketing ist das Credo. Aber auch wenn ich mir meine Gedanken mache, so bin ich zuversichtlich, dass es noch genug andere gibt, die sich für Demokratie tatsächlich interessieren. Daher werde ich gut damit leben können, mich zwischendurch als Randgruppe zu fühlen: Es bedeutet nicht, falsch zu liegen. Es bedeutet vielmehr, Prinzipien nicht als etwas zu betrachten, das verformbar ist wie Knetmasse, pressbar in jede Form.

 

In Wirklichkeit bin ich kein Opfer, diesen Gefallen werde ich niemandem tun. Ich werde einfach nur nicht gerne für einen Trottel gehalten, und ich möchte immer in Umständen leben, wo jemand, der mich für einen Trottel hält, dies auch öffentlich aussprechen darf und gleichzeitig mir selbst erlaubt ist, ihn ebenso öffentlich als Idioten zu bezeichnen, grundsätzlich. Das darf niemals ein Privileg werden. Unterstützen auch Sie die Initiative „Ja zu Nein zu Ja zu Dummheit“, das geht am Wahltag ganz einfach.

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