Am 29. Februar war im Literaturhaus Graz die Buchpremiere von Helwig Brunners Roman “Flirren” – Klima-SciFi, die im lebensfeindlichen Alpenvorland eines verbrannten fünfundzwanzigsten Jahrhunderts spielt, sprachlich-klanglich wohleingerichtet und inhaltlich doppelgesichtig: einerseits die einladend weirde Ausfaltung von technologischen, ökologischen, sozialen Sachverhalten in einer Welt, die noch nicht die Unsere ist, andererseits (soweit bei der Lesung eben absehbar) die schiere psychologische Normalität der Szenen, Figuren, Handlungen … Ersteres reizt unmittelbar, zweiteres reizt aufgrund der “Fallhöhe” zu ersterem.
Auffällig war dem Zuhörer die Textstelle, die einen ganz wörtlichen Upload von Information in die Gehirne von Jugendlichen schildert – nicht als Behauptung “von außen”, sondern als versuchte Abbildung davon, wie sich so ein Upload wohl “von innen” anfühle. Die Szene ist als Erinnerung des erwachsenen Protagonisten gerahmt, der daran zurückdenkt, wie er als junger Mann aus seiner ersten Upload-Prozedur erwachte, und wie er sich da wiederum rekursiv und reflexiv erschloss, was er nun, nach dem Upload, über die Dinge in der Welt wisse, das er vordem nicht gewusst hatte, und wie dieses Wissen strukturiert sei. Der Erwachsene denkt also daran zurück, wie er als Jugendlicher zuerst bemerkt, dass er nur denkt, dass er [etwas Bestimmtes] denkt – und dann, wie sich dieser Erkenntnismoment auch nur je im Nachhinein greifen lässt: Brunner gelingt in dieser multiplen Verschachtelung das Kunststück, das notwendig Paradoxe am menschlichen Bewusstsein greifbar vorzuführen, stets die Re-Konstruktion seiner selbst zu sein. Dass er (und/oder sein Protagonist) dann im weiteren Gang der Handlung zwischen einem vorgängig natürlichen und einem nachgängig manipulierten Bewusstsein unterscheidet, welch letzteres sich allein nicht mehr sicher sein könne, woher die eigenen Gedanken stammten – das ist dann entweder die kulturpessimistische Metapher für post/meta-moderne Bewusstsein anno 2024, ausgedacht von jemandem, der noch an eine immaterielle Seele (oder wahlweise an die vulgärmarxistische Variante des Entfremdungspostulats) glaubt, oder es ist die adäquate Abbildung der verkürzten Gesellschaftskritik des sich gewitzigt dünkenden Halbwüchsigen im Narrativ. So oder so nimmt der zweite Schritt dem ersten nichts von seiner Wucht.
Das andere, was vom Leseabend hängen blieb, waren die Schilderungen von klimabedingt menschenleeren Landschaften, wie sie allerhand Veränderungen unterworfen sind, und von Landschaft gewordenen Artefakten: Nahrungsketten, gebildet aus diesen und jenen Tierarten, von denen welche aussterben und ersetzt werden durch jene anderen; hier Bäume in arktischen Rückzugsregionen, dort Flechten auf Felsen; Windräder auf Bergkämmen; Reihen von Fertigungshallen … Je drastischer diese Kataloge das Paradigma der Erzählökonomie unterliefen (Klimaphänomenen gleich, die ihre Spuren an den Habitaten hinterlassen), desto größer ihr Reiz im Moment des Vortrags.
“Flirren” also. Apokalyptische Klimaprosa, sinnlich dargereicht, wagemutig in der Wahl der abgebildeten Motive. Gelegentlich wird freilich die Sprache des Buchs auf absehbare Weise durch das Erfordernis verzerrt, “die Leser: Innen zu bilden” und begrifflich auf den Stand zu bringen, über den Klimawandel überhaupt einmal zu reden (also: sie in den anthropozänen Diskursjargon einzuführen). Brunners Figuren scheinen dann gewissermaßen in die Kamera zu schauen und einen Registerwechsel hinzulegen, der zumindest mir die suspension of disbelief erschwert, aber was soll’s. Das machen die Figuren bei Dietmar Dath auch, wenn sie sich fuffzig Seiten lang über Mathematik und Sozialismus verbreiten, bevor die Handlung weitergehen darf … Damit wären wir endlich beim eigentlichen Punkt angelangt. Denn der Punkt hier ist nicht nur jenes Buch “Flirren”.
Der Punkt ist, dass bei Brunners Lesung der Mangel an kanonischen Referenztexten deutlich wurde, an Orientierungspunkten, anhand derer die Zuhörer:innen sein Unterfangen messen oder einordnen könnte. Die zeitgenössische Gegenwartsliteratur, der Brunner in Ästhetik und Lebenspraxis angehört, ist nämlich von dem Apparat an bereits durchverhandelten genre tropes der Science Fiction seit den 1930er Jahren abgekoppelt:
Die Leser:innen, denen sich “Flirren” anbietet (… da der Markt so segmentiert ist, wie er ist, und “Flirren” eben in diesem und nicht in jenem Regal im Geschäft zu liegen kommt …), haben höchstens akzidentiell von “Dune” (F. Herbert) und der Geschichte der “Dune”-Verfilmungen gehört (was nützlich wäre, um alternative Schilderungen posthumanen Bewusstseins zu kennen); ganz geschwiegen von z. B. der innovativen Postapokalyptik in “A Canticle for Leibowitz” (W. M. Miller), oder von “The Player of Games” (I. Banks), einem Text, der die Ethiken ausbreitet, auf die sich eine AI-durchwirkte Gesellschaft einigen kann. Umgekehrt werden Leser:innen, die auf jenes vermeintlich trivialere Segment abonniert sind, wenn sie “Flirren” in die Hand bekommen, manche Tonfälle nicht zuordnen können, da sie sie nicht als Reflexe aus Bernhard oder Bachmann o. ä. erkennen.
Es drängt sich aus diesem Anlasse auf, hier “Berge Meere und Giganten” von Alfred Döblin anzupreisen, erstmals erschienen von genau hundert Jahren (!!) bei S. Fischer Berlin, ein Buch, das in sich (a) die formale Kargheit und Schärfe der unmittelbaren Nachkriegsmoderne schon vorwegnehmend begreift, ebenso wie (b) die Schnulzensucht der Heftromane in den 1920ern und (c) die opulente weirdness der Weird-Tales- und Metal-Hurlant-Magazine der zweiten Jahrhunderthälfte. Der fünfhundert-Seiten-Ziegel geht – und zu einem historischen Zeitpunkt, da die Nazis noch nicht die Macht übernommen und Unglück über die Welt gebracht hatten – inhaltlich von dem “Problem” der Überfülle, der post scarcity aus. Angesichts der für Döblin eben greifbar gewordenen Industrialisierung aller Lebensbereiche setzt sein Buch voraus, dass rationale Orgaisation bald jede Not beenden werde, worauf – bei Döblin im siebenundzwanzigsten Jahrhundert – das Leben Sinn und Antrieb verliere. Die zwei Gruppen, die in Döblins Buch Alternativen zur “Moderne” des 27. Jahrhunderts anzubieten haben, sind von uns heute aus ca. als “die Nazis” und “die Hippies” zu identifizieren. Beide scheitern bis zur Mitte des Buchs, nicht ohne Mitteleuropa, vom Territorium des heutigen Deutschland ausgehend, in mehrere Kriege zu stürzen. Als Versuch, die Welt zu stabilisieren, folgt auf jene Kriege als großes Menschheitsprojekt (ca. an der Stelle, an der in unserer wirklichen Nachkriegswelt die Mondfahrt stand) die Enteisung Grönlands (!!!) und seine Erschließung als neuer Kontinent für die Dissident:innen der alten Kontinente. Auch dies scheitert; die Technologie entfesselt unvorhergesehen Urkräfte, und zwar der Art, wie sie sich als Nächstes die Macher der schlecht angesehenen Sci-Fi-Comics der Siebziger ausdenken würden:
Hausgroße Einzeller greifen London an! Das Verschweißen von hunderten (wir würden sagen: genetisch) veränderten Tier- und Menschenleibern zu den “Giganten”, die im Titel stehen! Saurier! Unterirdische Raves (ja, Döblin beschreibt, avant la lettre, Raves)! Die Eliten können sich in Vögel verwandeln! Usw. usf.
Die Art, wie alles dies geschildert wird, gleicht auf weite Strecken einer distanzierten, eben kargen, Chronik, die keine Individuen kennt, nur “Stadtschaften”, “Völker” und “Scharen”; mit gelegentlichen melodramatischen, schwül-erotischen Episoden, Dreiecksbeziehnungen unter Beteiligung von Mächtigen und Ohnmächtigen jederlei Geschlechts an den entscheidenden Momenten der Ereignischronik. Was Döblin nicht bietet – was er weiträumig vermeidet – ist jede Spur des psychologischen Erzählens, das der Literatur seiner eigenen Zeit entsprochen hätte. “Berge Meere und Giganten” scheint so auch eine Sprache der Zukunft – einen Lesegeschmack der Zukunft – vorwegnehmen zu wollen.
…
Langer Rede kurzer Sinn: Der Rezensent empfiehlt die Lektüre von “Flirren”; und empfiehlt als effizienteste Methode, sich einen “Flirren” angemessenen literargeschichtlichen Horizont anzueignen, darüber hinaus die Lektüre von “Berge Meere und Giganten”.
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Helwig Brunner: Flirren. Droschl 2024, gebunden, 208 Seiten, ISBN: 9783990591499, € 24,00
Alfred Döblin: Berge Meere und Giganten. S. Fischer 2008, gebunden, 640 Seiten, ISBN: 9783100155511, € 20,50