Ein bescheidener Vorschlag zur Solidarität


Es ist völlig egal, ob wir individuell der Meinung sind, Russland in seinem derzeitigen Zustand unterscheide sich nicht wesentlich von einer zumindest totalitär zurechtgemachten, wo nicht gar im engen Sinne faschistisch formierten Gesellschaft; Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine (von früheren Militäroperationen wie denen in Tschetschenien und Syrien ganz geschwiegen) werde von verantwortungslosen Gaunern betrieben, denen es v. a. um das nach innen gerichtete Anheizen einer nationalideologischen, reaktionären Kulturrevolution geht, mit der sie die eigenen Machtgefüge einzuzementieren suchen; und ob wir folglich fürchten, für die Staaten auf dem potentiellen Aufmarschgebiet Russlands gelte es, sich rasch und klar zum Westen zu bekennen …

… oder ob wir, im Gegenteil, in dem Krieg in der Ukraine die finale Eskalation eines langen, zuvor nur lauwarmen Kolonialkriegs sehen, den die NATO und die USA seit Jahren an vielen Fronten gegen Russland führten; ob uns westliche militärische Solidarität mit der Ukraine bis auf die fünfte Nachkommastelle derjenigen Schützenhilfe zu gleichen scheint, die ein Reagan oder ein Kissinger damals stets verlässlich den ekligsten Fascho-Staaten in der dritten Welt zukommen ließen; ob wir fürderhin in der aufkommenden Angst vieler Westeuropäer vor all den antiliberalen, antisäkularen und überhaupt antimodernen Tendenzen im Osten, von denen man so viel hört, das Ergebnis blanker Propaganda erkennen …

… ob wir, verschärft gesagt, in Putins Russland die Sorte von Bedrohung sehen, mit der nicht verhandelt werden kann, und die unsere Lebensweise in Frage stellt; oder ob uns im Gegenteil Russlands Bündnis- und Kriegspolitik als Gegenwehr gegen eine bereits laufende Katastrophe erscheint …

(… oder beides …)

… ob wir uns auf Seiten der sog. Westmächte “wertegeleitete Außenpolitiken” wünschen (sollen), mit all den Militäreinsätzen, die das mit sich brächte; oder lieber, damit man sich auskennt, blanken Investitionsschutz mit Waffengewalt; bzw. auch, was von beidem wir glauben, dass die letzten dreißig Jahre über tatsächlich gespielt wurde …

… unsere individuelle Meinung zu allem diesem ist, wie gesagt, völlig egal. Dies aus dem einfachen Grund, dass uns eh niemand fragt; doppelt und dreifach nicht: Wir sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle keine indiviuellen Stakeholder der europäischen Exportwirtschaft, ausgestattet mit Wahlrecht in Aufsichtsräten oder Sperrminorität in Aktionärsversammlungen, sondern sind bloß parlamentarisches Wahlvolk. Zweitens sind wir solches Wahlvolk just in Österreich, einem neutralen Land, was zumindest heißt, dass wir kein Nato-Mitglied sind. Drittens ist Österreich nicht nur neutral, sondern auch so klein und von einem so ineffektiven Militär verteidigt, dass, wenn ein bewaffneter Konflikt in unserer Weltregion ernsthaft hochkocht, das Verhalten Österreichs als Staat keinen nennenswerten Einfluss auf das Kriegsgeschehen haben dürfte.

Wir werden hoffen müssen, dass in so einem Fall allen Konfliktparteien eine intaktes Salzburger Festspielhaus auf Dauer nützlicher erscheint als unser Territorium (ebenso: unversenkte Tretboote am Wörtherseestrand; hübsch beschneite Tiroler Abfahrtshänge; ein sicheres, sozial beruhigtes Wien mit charmant-grantigen Oberkellnern, wo die nationalen Eliten aller Länder ihre zweiten Söhne zum Kunststudium zwischenparken können; auf Mozartkugeln scheißenden Lippizzanern reitende Sängerknaben; Stermann und Grissemann im Barockoutfit ang’soffen vorm Stephansdom; usw. usf. …). Das ist keine unrealistische Hoffnung: Österreich ist geil, was alle die unwichtigen Repräsentationssachen betrifft; es ist keine ernstliche Bedrohung für irgendwen; selbst seine strategischer Ort als Brückenkopf militärischer Kontrolle Mittel- und Osteuropas ist überbewertet, da ist Polen (zum Unglück seiner Einwohner) praktischer gelegen. In Frage steht eher, wie die Welt rund um uns herum aussähe, wenn’s kracht; und wie locker wir uns dann diejenigen Sorten Wohlfahrt weiter leisten könnten, die wir seit Anno Kreisky mit gesellschaftlichem Fortschritt oder gar Sozialismus zu verwechseln geübt sind. Ungemütlich würd’s wohl, aber uns fragt ja, siehe oben, keiner.

Aber auf eines, ja, auf eines hätten wir uns einigen können, als in der Ukraine im Februar-März 2022 die Eskalation begann (wie gesagt: völlig egal, was wir individuell über diese Eskalation zu denken meinen). Wir könnten uns – als Bewohner*innen Österreichs – auch jetzt noch drauf einigen. Und diese eine Sache läge sogar in unserer Macht, etwas zu tun: Hierin ist also auch nicht völlig egal, was wir individuell denken. Ich rede von den praktischen Konsequenzen, die das luftige Gerede Kanzler Nehammers von der “vollen Solidarität mit der Ukraine bei aufrechter militärischer Neutralität” haben müsste, wenn wir uns entschließen wollten, es ernst zu nehmen. Denn: Es ließe sich mit Hilfe dieses Ernstnehmens die heimische Gesellschaft zum deutlich Besseren transformieren, völlig unabhängig davon, wo einer glauben mag, dass das geostrategisch Gute (o. ä.) daheim sei.

Das mit dem Boykott von russischem Gas und Öl aus Solidarität war ernstgemeint? – Fein. Besser für die Umwelt wär’s. Also: Alle nicht-essentiellen Warmwasserboiler auf “aus”, sagen wir, an fünf von sieben Wochentagen (war’s nicht auch so in der Ölkrise der Siebziger?). Alle Privatautos bleiben daheim, soweit nicht dringend nötig; überhaupt: Luxusstrom-Stopp. Die genaue Formulierung einer solchen Verordnung, samt allen Hin- und Rücksichten, mag knifflig werden, unmöglich ist sie nicht. Natürlich kann sie dann nur den Anfang der großen bevölkerungsweiten Solidaritätsaktion darstellen.

Wir erinnern uns zum Beispiel: Als Begründung, warum die österreichische Industrie auf Teufelkommraus weiterlaufen muss, hörten wir ja in den letzten Monaten immer von der drohenden Not der Beschäftigten, vom Konjuntureinbruch, wenn Läden wie VOEST und Magna Pause machen. Ok, soll sein. Von den Gewinnen für die Chefetage und die Aktionäre war in jenen Debatten nie die Rede. Also: warum nicht heuer mal eine Solidaritätsausschüttung in die Steuer- statt die privaten Säckel? Im Sinn dieser selben Solidarität mit der Ukraine (die sich, wie gesagt, als Energie-Kauf-Stopp vermitteln würde, der wiederum Folgen zeitigte, die dann abzufedern wären) ließe sich auch ein Anti-Infaltions-Programm aus den Übergewinnen der Energiekonzerne finanzieren; vom Durchdrücken eines massiven Windkraftausbaus aus Solidaritätsgründen gegen bekannte niederösterreichische und Tiroler Partikularinteressen ganz zu schweigen.

Die Kampagne, das Privatauto stehen zu lassen, ginge natürlich nur bei gleichzeitigem massivem Öffi-Ausbau noch ins letzte Kaff, auch und gerade, wo es sich betriebswirtschaftlich nicht rentiert. Als Solidaritätsgag böte sich an, dabei nicht nur auf Kleinbusse von eben jener Art zu setzen, wie sie überall auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion unterwegs sind, sondern auch ihren Namen, immerhin ein Lehnwort aus dem Deutschen, zu re-importieren: Marschrutkas.

Was noch? – Konsequentes, solidarisches Enegiesparen hieße auch, die Städte nachhaltig zu begrünen (weil: Asphalt -> heiß -> Klimaanlage; Grünzeug -> weniger heiß -> keine Klimaanlage); allgemeiner Versiegelungsstopp und völliger Baustopp bei Einfamilienhäusern u. ä. sowieso.

Flankierend müsste eine Österreichische Bevölkerung, die die Regierungsverlautbarungen von der Solidarität mit der bedrohten Ukraine ernst nimmt, auch um ein Umdenken in der Flüchtlingspolitik ringen: Wenn wir sämtliche Geflüchteten aus Syrien, aus Afrika, aus Russland und der Ukraine erstmal aufnehmen (und zwar insbesondere Leute, die kämpfen sollen, aber nicht wollen), die Leute aus dem Lager Moria und von der Belarussisch-Polnischen Grenze (ja, da sitzen noch welche fest, und im engeren Sinne gut wird es denen gerade nicht gehen), dann gewinnen wir die moralische Glaubwürdigkeit, in der EU eine gerechete Verteilung dieser Lasten zu fordern. Auch müsste eine solche Soli-Kampagne thematisieren, inwiefern Leute, die kommen und immerhin auch arbeiten können, eine Last sein sollen.

Das geht natürlich alles nur, wenn wir es ernst meinen, und nicht bloß versuchen, uns durchzuwurschtlen; wenn wir nicht von Solidarität bloß plappern und westliche Werte bloß beschwören, solange das Gas weiter fließt und die heiße Luft, die wir absondern, nichts kostet. Echte Solidarität dagegen müsste einen echten Einschnitt in unsere Lebensweise bedeuten. Einen Einschnitt, der auch abgesehen von aller Geopolitik echt wünschenswert erscheint.