Beatmen


Ein Virus hält die Welt nicht in, sondern außer Atem und versetzt sie in einen Ausnahmezustand. Zumindest ein paar Gegenden, in vielen anderen Gegenden ist frühzeitiges Sterben ganz normal, dort hätten sie gar nichts dagegen, einen Supermarkt mit einer Maske betreten zu dürfen, aber es gibt gar keinen, oder er ist einfach leer und Menschen verhungern, obwohl es genug zu essen gäbe, wovon aber sicherheitshalber tonnenweise weggeworfen wird, weil viel zuviel davon da ist. Ganz normal. Oder sterben, obwohl es genug Medizin gäbe. Mit Hilfe für diese Menschen sind aber keine Umfragedaten in die Höhe zu schieben.

Die skurrilste Hoffnung, die zur Zeit gerne artikuliert wird, nennt sich Rückkehr zur Normalität. Als würde diese funktionieren. Gerade wurden Pflegehelfer*innen Gesetze angediehen, die nicht im Einklang mit dem EU-Recht stehen. Familienbeihilfen sollten gekürzt und den jeweiligen Lebenserhaltungskosten des Herkunftslands angepasst werden. Nun werden genau diese Kräfte eingeflogen. Sie sind die Beatmungsgeräte in der Pflege alter Menschen in Österreich. Ein- und Ausreisegenehmigungen werden verteilt oder auch nicht – dem Gemüse kann es Wurscht sein, ob es geerntet wird oder am Acker vergammelt, es fehlen nämlich die Kräfte, die für wenig Geld den Spargel und die Karotten aus unserer heiligen Scholle rupfen. Ich bin mir nicht sicher, ob das alles normal ist.

Der Wettbewerb beherrscht nicht nur den so genannten freien Markt, sondern nun auch die Maßnahmen, die gesetzt werden und wurden, um dem Virus Herr zu werden. Die Maßnahmen scheinen in unserem Land einigermaßen richtig zu sein, und einmal zu viel daheim geblieben wird bestimmt klüger gewesen sein als einmal zu wenig, das hat vor allem das Après eines Schiwochenendes in den Tiroler Bergen recht eindrucksvoll bewiesen. Davon redet aber niemand gerne, bei uns, international wird gemeinerweise ganz viel davon geredet. Das hält aber niemanden ab, des Landes Anstrengungen in dieser Zeit der Krankheit in Wettbewerb zu stellen und mit Stolz festzustellen, dass es hier aber sowas von geschmiert abläuft, dass wir das Land quasi bald wieder hochfahren können, als wäre es im Keller stehen geblieben.

Ein sehr akkurater Beitrag in der Süddeutschen Zeitung beschreibt den Schlamassel auf einer Seite, zusammengefasst: Ob ein Auto, das gerne gekauft würde, nicht jetzt, sondern erst im November beispielsweise über den Tresen wandert, sollte sowohl für die Käufer*innen als auch für die Verkäufer*innen egal sein, das Problem ist lediglich, dass das Geld aus dem Verkauf längst ausgegeben ist, um die Sehnsüchte und Erträge von Aktionär*innen zu befriedigen und zu erfüllen. Und schon kommen wir an den Punkt, an dem die berechtigte Frage nach dem Warum zweier Parallelwirtschaften zu stellen ist. Die eine ist produktiv, die andere virtuell und zu einem nicht kleinen Teil auf Inseln und fegt von dort aus die produktive vor sich her wie Laub. Die Realwirtschaft ist aber das Beatmungsgerät für die Finanzwirtschaft. Letztere wird bestimmt gut beatmet werden, wenn alles vorbei ist. Die Realwirtschaft hat starke Lungen, das wissen wir, sie ist die Pflegekraft aus dem Billiglohnland für Spekulant*innen und Börsenmakler*innen. Einer hat etwa 2 1/2 Milliarden Dollar “verdient”, indem er auf einen Corona-Crash gewettet hat.

Im Wettbewerb tummeln sich derweil Größen, die immer noch nicht nur Schäuflein, sondern ganze Sattelschlepperfuhren an Unsinn in der Welt abladen, obwohl zu hoffen war, dass wenigstens jetzt einmal Pause sein könnte mit gesellschaftspolitischen Abgründen, aber nein, diese graben sich tiefer und tiefer ein, und das schlimmste daran ist, dass es vielen Leuten auch gefällt. Wenn wir schon bei Sattelschleppern sind: Ganze Fuhren davon mit medizinischem und hygienischem Bedarfsmaterial werden gegenseitig vor der Nase weggeschnappt, die Preise dafür schnellen in die Höhe, wer hat, der kriegt, wer dabei den Kürzeren zieht ist vorstellbar, das sollte auch in die kleinsten Gehirne reinpassen. Aber darum geht es gar nicht: Es passt hinein und erscheint in Ordnung. Vom amerikanischen Präsidenten könnten Bände gefüllt werden, es ist einfacher zu notieren, was er bis jetzt richtig gemacht hat, das machen wir: Er schläft zwischendurch, wie jeder andere Mensch auch, was zumindest dem Rest der Welt ein paar Stunden Ruhe erlaubt. Die Maßnahme, niemanden mehr in die USA einreisen zu lassen, erübrigt sich irgendwie: Wer möchte schon freiwillig in ein Land, in dem das Virus quasi completely out of control ist, genauso wie sein geistesgestörter Chef im Weißen Haus?

Ansonsten geht die Welt über vor Expertenmeinungen. Eine Zeit lang war es ruhig, der Schrecken groß, der Schock saß tief, dass etwas die Welt überschwemmt, das sich nicht um nationale Grenzen kümmert, wie denn auch. Anstatt aber gemeinsame Strategien zu denken, werden Grenzen geschlossen, und anstatt Menschen flächendeckend einfach zu empfehlen, dort zu bleiben wo sie sind und den Aktionsradius klein zu halten, wurden sie schnell noch nach Hause geschickt, um das Landle heimisch zu machen, oder was haben sich die Kolleg*innen in Tirol wohl dabei gedacht, als sie in vollem Bewusstsein der Situation die verbliebenen Tourist*innen vor die Tür setzten und gleichmäßig über den Kontinent verteilten? Ähnliche Schnapsideen haben sich wohl auch anderswo zugetragen, wissentlich oder nicht.

Die dafür Verantwortlichen sollten bald einmal, und nicht zu spät, Rede und Antwort stehen, wobei erstaunt, dass es keinen einzigen Rücktritt gab – man hörte lediglich aus vielen Mündern, dass Bücher von hinten zu lesen einfach wäre, hinterher. Das ist so wahnsinnig blöd! Die Erfahrung zeigt, dass spontan gestellte Fragen, auch wenn sie noch so einfach sind, nicht beantwortet werden können, zum Beispiel, ob die höchst bedenkliche politische Entwicklung in Ungarn nicht tatsächlich bedenklich ist. Ohne Beratung kann aber wahrscheinlich nicht einmal beantwortet werden, ob gerade ein brauner oder ein blauer Spielkegel auf einem Brett steht, weil man eben sehr intensiv mit anderen Sachen beschäftigt ist. Die Idee der deutschen Kanzlerin, die ärmeren Staaten der EU gut zu unterstützen, indem die reicheren etwas mehr dazu beitragen, wird allerdings sehr rasch abgeschmettert. Dass ein guter Teil die Europäische Gemeinschaft lediglich als Wirtschaftsvehikel begreift und keineswegs als Solidargemeinschaft ist längst bewiesen. Dass nun aber der Weg ausgerechnet auch von Österreich in einen unreflektiert nationalen mündet, ist nicht nur europapolitisch fragwürdig, sondern höchstwahrscheinlich wirtschaftlicher Unsinn. Da stellen wir eine naive Frage: Warum wird auf Länder wie Spanien und Italien, die es gerade richtig schwer haben, gepfiffen, während zu Ungarn und Polen geschwiegen wird? Warum sollten Tourist*innen nur aus Deutschland zu uns kommen dürfen? Frei nach dem platten Arschkriecherspruch “der deutsche Gast ist niemals Last”?

Es ist klar, dass in solchen Zeiten nicht alles richtig gemacht werden kann, das erwartet auch niemand. Gleichzeitig darf aber auch auf Verfehlungen, Mängel und damit einhergehend auf neue Ideen aufmerksam gemacht werden – das passt aber nicht in die Message Control. Es muss ja nicht alles aus der Opposition ernst genommen werden, die Sorge der FPÖ vor einem Spitzelstaat ist einer der vielen Witze, die nicht erzählt werden, sondern Tatsache sind. Allerdings ploppen im Moment Defizite, Fehlentwicklungen und Irrtümer in unserem Wirtschaftssystem, Mängel in unserem Pflegesystem und viele andere Dinge, die längst bekannt sind und von Regierungen ohne Unterlass weggeschwiegen werden wollen, wie bunte Bojen aus dem Meer, eine nach der anderen. Die werden oben schwimmen bleiben, die können nicht einfach wieder weggedrückt werden.

Die Idee, dass diese Krise auch für etwas gut sein kann, wird mitunter als zynisch betrachtet. Warum, weiß ich eigentlich nicht. Es ist doch eine geeignete Phase, in der zumindest einmal Fragen gestellt und Dinge in Frage gestellt werden müssen. Es ist ja jetzt schon eine Glanzzeit des Opportunismus einer Partei mit dem zweiten Namen Sparefroh, und die finanziellen Hilfeleistungen werden als Heldentaten präsentiert, als käme das Geld aus den heiligen Hallen der Großzügigkeit. Dabei ist es lediglich die verwaltete Marie aus einer Realwirtschaft, die sich die Realwirtschaft hinterher wird wieder erarbeiten müssen, sonst gar nichts. Selbstbeatmung nennt sich das, was in der Spekulation nicht funktioniert.

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