Fernsehen mit Schmitzer mit Kierkegaard. Über Lodge 49.


Lodge 49 ist eine schwer kategorisierbare, unaufdringlich tragikomische und ungefähr “realistisch” gemeinte Serie über einen vage freimaureresken social club in der krisengebeutelten Industriehafenstadt Long Beach, Kalifornien. Sie ist unbedingt empfehlenswert, denn erstens kann man, während sie läuft, ohne allzu flashy Ablenkungen bügeln oder kochen, wobei es einem aber auch nicht fad werden wird, und zweitens darf Serienmacher Jim Gavin für seine Hervorbringung ein zwiespältiges Alleinstellungsmerkmal beanspruchen: Im ersten Staffelfinale, also nach zehn Folgen und damit knapp ebenso vielen Stunden Programm (bei uns legalerweise anzusehen auf Amazon), gibt es eine Stelle, da erreicht der Triumph des bekanntermaßen alternativlosen Kapitalismus über eh alles in unserem Leben, die In-Dienst-Nahme auch der entlegensten Daseinsbereiche durch seine Verwertungslogik, eine neue Qualität:

Nicht bloß, dass die Hauptfiguren von Lodge 49 – Angehörige der sogenannten unteren Mittelschicht an der Kante zum Prekariat, von der sehr greifbarenDrohung der Obdachlosigkeit ebenso real zermürbt wie von ihren diversen emotionalen Krisen (die alle keine wären, wenn sie jeweils nur ein kleines Bissl mehr Geld hätten) – jede, aber auch jede Ressource und jede Facette ihres Soziallebens vernutzen und verwerten müssen, um irgendwie, und knapp, über Wasser zu bleiben; und nicht bloß, dass sie diesen mühsamen Zustand auch noch wacker toll finden und positiv denken sollen; nein: Während der letzten paar Takte des Finales legt sich die Serie (zumindest uns Zuseher*innen gegenüber, und vielleicht, Cliffhanger Cliffhanger, nur zum gut inszenierten Schein) darauf fest, dass die “mystischen Versprechungen” der namengebenden Lodge nicht alle bzw. nicht nur Bullshit sind. Man stelle sich vor, was das in diesem Zusammenhang und für die bis dort hin wie gesagt “realistische” Serie bedeutet:

Alle Kindergebete sind dann wahr – es gibt Magie – es obwaltet definitiv ein verborgener Plan hinter den Dingen, und er belohnt korrektes Verhalten wirklich – so etwas Ähnliches wie “erlösendes Eingeweihtenwissen” is a thing … aber selbst alle diese feinstofflichen, metaphysischen Instanzen sind dem Gesetz des galoppierenden Oarschloch-Neoliberalismus nach- und untergeordnet, will sagen: Selbst Gott in seinen Himmeln untersteht der gig-economy. Nicht mehr nur das Ende der Welt ist, wie der bekannte Kalauer geht, im Gehege der Unterhaltungskünste leichter zu denken als das Ende des Kapitalismus – auch die Option auf wie immer geartete individuelle Mystik wird, statt den bestehenden Scheißdreck in der jeweiligen Story zu transzendieren, von diesem ins Immanente herabgezwungen.

Wieviel gnädiger und menschenfreundlicher wäre das selbe Narrativ doch, wenn sich die jenseitigen Spekulationen und unausgesprochenen Transzendenz- bzw. Katharsis-Hoffnungen der Protagonisten am Ende als zwar autosuggestiv nützlich, aber halt sachlich falsch erwiesen (zumindest für uns vor der Glotze daheim). Dann hätten wir es bei dem Personal von Lodge 49 mit Leutchen zu tun, die verzweifelt (was auch immer) glauben (müssen), um durchzukommen, und denen wir dabei aber zugestehen dürften, dass sie einer unhaltbaren Wirklichkeit (mit freilich ungeeigneten Mitteln) nach Kräften ein Besseres entgegenhalten. Die Dialektik des magischen Denkens, zugleich Opium des Volkes und Hort des objektiven Utopie zu sein, bleibt in beiden Varianten gewahrt – die Souveränität und Würde der sich Abkämpfenden hingegen nur im zweiten Fall. Wenn nämlich, wie gesagt, der ganze Kinderglaube und das Eingeweihtenbrimborium auch nur zum Teil auf Wirkliches verwiesen, dann hieße das ja, der gesellschaftliche Zustand in diesem dargestellten Long Beach, wie wir ihn über die ersten neuneinhalb Stunden Lodge 49 zu sehen kriegen, und mithin ein Zustand, in dem der Mensch ein verächtliches, erniedrigtes usw. Wesen ist – er hätte das Siegel der Genehmigung durch diverse höhere Mächte. In ihnen müssten wir folglich bösartigste Dämonen erblicken, ÖVP- und Republicans-Wähler droben am Himmel, Verwalter eines Elends, an dessen Ausgang sie kaum interessiert sein können.

Natürlich wissen wir wohl, dass die allzeit aufs Neue zu bestätigende Kapitulation des Individuums und jeder möglichen Utopie vorm blanken blöden Sachzwang stets das wirkliche Ziel der Kulturindustrie blieb. Aber für den Normalfall haben wir bestens gelernt, sie [wie die Dogmen der Una Sancta, wenn wir gerade die Sixtinische Kapelle oder so besichtigen] als ideologisches Hintergrundrauschen auszublenden und uns an den Epiphänomenen umso fröhlicher zu ergötzen [Busen! Spannung! Subtext! Explosionen!]. Und gerade im vorliegenden Fall durfte man denken, nö, hier versucht sich mal wirklich ein Team an der Schilderung der physischen, emotionalen und weltanschaulichen Folgeschäden schleichender Verelendung gerade im Herzen der Mehrheitsgesellschaft. Aber Pustekuchen! Bzw. Stein der Weisen.

Gemeint ist das Ganze natürlich anders: Eigentlich geht es in der Serie um die individuelle Trauer der Geschwister Dudley um ihren frisch verstorbenen Vater; ein bloßes illustratives Akzidens aus dem Trickkisterl des Drehbuchschreibers ist dem gegenüber der Umstand, dass all sein väterliches Bemühen, um seinen Kindern ein gutes Leben (= den Klassenaufstieg) zu ermöglichen, nicht gereicht hat und sie statt dessen Eingangs pleite, verschuldet und ohne das Haus dastehen; ebenso ein bloßes Darstellungsmittel das (“verhext”) groteske Pech, das Sohn Sean die Sportlerkarriere verhagelt hat. (Der ganze “Mystery”-B-Plot, betreffend die Malversationen und Abenteuer des vormaligen Logen-Häuptlings – er leistet strukturell wenig mehr, als jenen den “persönlicheren” A-Plot zu spiegeln und zu kommentieren … ) Wir merken was:

Als Erkenntnisgewinn maßvoll sozialrealistischer Serien-Macherei im Jahre 2018 dürfen wir den Umstand bestaunen, dass wir real wieder im Mittelalter sind.

Die unsichtbare Welt ist wirklich, man kann sich individuell auch an sie wenden, aber ihre Einwohner*innen haben am Zustand der Welt und der Menschen nicht prinzipiell was auszusetzen. Klassenherrschaft erscheint als Mystik sublimiert und verinnerlicht; als Option für den Einzelnen, der/die sein/ihr Los in der verzauberten Welt verbessern will, bietet sich höchstens an, das Strickmuster der Heldenepen und Märchen, wie Joseph Campbell es beschrieben hat, als Bedienungsanleitung auf die jeweilige Alltagsscheiße anzuwenden … als wär’ das Leben nur ein Traum, nichtwahr, und als wäre die Möglichkeit auf sowas wie substanziellen, überindividuellen, systematisch erkennbaren Fortschritt aus der Welt verschwunden … ganz so, wie die manufacturing jobs aus Long Beach verschwunden sind.

Wo stand das kürzlich (oder war’s nur in einem Meme?), dass ausgerechnet Star Wars (Yoda, nicht Spock) die realistischere SciFi darstelle … genau, weil die Stories jenes Franchisesam Märchen orientiert und damit auf die Unhintergehbarkeit von unmittelbarer Königs- und Gewalt- und Charismatenherrschaft ausgerichtet seien … währendStar Trek (Spock, nicht Yoda) als unrealistisch abzulehnen sei, weil es die falsche Hoffnungen wecke, dass sich je irgendwas Wirkliches an den gesellschaftlichen Verhältnissen ändern würde lassen.

(Der Märchenwald rückt also wieder näher. Gut zu wissen. Annie get your Flammenwerfer.)

Wir dürfen davon ausgehen, dass im writer’s room von Lodge 49 unter anderem Leute sitzen, die sich über alles dieses hier Geschilderte auch die hier angerissenen Gedanken (und dann noch ein paar mehr) gemacht haben. Als starkes Indiz dafür mag diese eine Stelle vom Anfang der letzten Folge (ab ca. Minute 7:23) dienen, wo ein Tankwart nebenbei zu Sean meint:

“Ein Kunde erzählte mir, dass der Boden bei Orbis so vergiftet sei, dass er Halluzinationen verursacht.” – “Ach ja?” – “Ja, Mann. Es ist, als wäre die ganze Stadt auf ‘nem Trip.”

Uns wird also die Leseweise angeboten, Orbis (also: Die Fabrik, deren Schließung im Zuge eines Skandals der Stadt die gegenwärtige Arbeitslosen-Krise beschert hat) sei verantwortlich für die langsame Verschiebung der Wirklichkeiten, der wir bis dorthin über neun Folgen zugesehen haben; der “Trip”, auf dem wir sind, wenn wir der Serie folgen – er ist genau nicht heilig oder “natürlich”, sondern hat was mit “vergifteten Böden” zu tun.

In der unmittelbar folgenden Szene steht Sean neben dem Freeway und sucht, den eben erworbenen Benzinkanister in Händen, vergeblich sein Auto, das er doch genau hier abgestellt hatte … Hinter ihm fragt (uns) nun ein Werbeschild in weißer Schrift auf Himmelblau:

“Is there another way to live?”

Und das schwarze Graffiti oben drüber antwortet uns:

“No”

Soviel zu Lodge 49. Und zu der Welt, die solche Serien hervorbringt.

  • Bildrechte/copyright Ⓒ: (CC BY 2.0) Brendan Riley