Enttäuschung


Ein Besuch einer Documenta lohnt sich immer. Wenn auch viel zu kurz geraten, korrigiert sich die Sicht der Dinge allemal und eröffnet neue Perspektiven. Den großen Knaller habe ich nicht gefunden. Gefunden habe ich Enttäuschung. Enttäuschung über den Zustand der Welt. Flucht und Vertreibung waren selbstverständlich präsent. Bemerkenswert die Blutmühle, eine Münzpräge im kolonialisierten Südamerika, deren gewaltige Zahnräder von Eseln und schließlich von Menschen betrieben wurden. Ein exakter Nachbau davon steht am Gelände, und um 18.00 darf man dann selbst sich einspannen lassen, damit man genau weiß, wie es sich anfühlt, unterdrückt zu werden. Danach fahren wir wieder heim, vollkommen verändert. Ich bin von dieser Documenta unverändert nach Hause gekommen, soviel zu meinem Perspektivwechsel. Es geht nicht um die Kunstwerke selbst, die mich nicht erwischt haben. Außerdem soll der Blitz mich treffen, sollte ich jemals Kunst beurteilen, aber man darf seine Empfindungen beschreiben. Die haben nicht gebebt. Vielleicht vermisse ich Aktionismus. Vielleicht bin ich einfach nur ein gelangweilter Coucherdapfel, der durch die Gegend fährt, um sich ein wenig sophisticated bespaßen zu lassen, lasse ich mir gerne vorwerfen. Aber es ist zuallererst Neugier und Hoffnung, die uns nach Kassel führt.

Die Kunstschaffenden erleben gerade ein wahres Dilemma. Die tatsächlich Kunstschaffenden sitzen zur Zeit in Parlamenten und weißen Häusern, und denen Konkurrenz zu machen ist eine aussichtslose Angelegenheit. Wem würde denn eine Installation einfallen, bei welcher ein Präsidentschaftskandidat in einem Autobus seinen Vertrauten erklärt, wie toll und einfach es ist, Frauen in den Schritt zu fassen, und hinterher tatsächlich Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird? Wer hätte die Idee, auf ein Plakat für einen imaginären Wahlkampf eine liegende schwangere Frau zu setzen mit den Worten ‘”Neue Deutsche?” Machen wir selber’ ? Wer würde ein Strategiespiel entwerfen, bei dem man als Land in einem kleinen Kontinent einer Union beitritt, ganz viel Geld dafür bekommt und hinterher jegliche Solidarität verweigert, ohne aus dieser Union wieder hochkant rauszufliegen? Wer würde mit einer rechtsextremen Partei koalieren und gleichzeitig behaupten, ein Bollwerk gegen genau diese Partei zu sein? Es ist eine fürchterliche Zeit für die Kunst. Vielleicht sollte die Konzeptkunst ins Meer geworfen werden. Es regt nichts mehr auf. Konzentrieren wir uns wieder auf schöne, handwerklich vollendete Kunst, auf schöne Bilder, schöne Gemälde, Skulpturen, Bauwerke und Basteleien. Gleichzeitig zäunen wir all die Parlamente und Nationalräte und Regierungshäuser ein, machen einen Eingang und einen Ausgang, versehen diese Käfige mit einem Titel und bekommen beim Eintritt Schmerzensgeld, wenn wir uns den Schmarren ansehen.

Der Aufenthalt in Deutschland brachte zufällig das TV-Duell der beiden Spitzenkandidaten mit sich. Abgesehen vom Inhalt: Es war zu sehen und zu hören, dass zwei Menschen mit teils unterschiedlichen, teils ähnlichen Ansichten normal und respektvoll miteinander sprechen können. Das war eigentlich das größte Kunstwerk, das ich von diesem Wochenende mitgenommen habe. In den österreichischen Zeitungen war mitunter zu lesen, dass bei diesem Gipfeltreffen nicht viel los war. Da gibt es offenbar Parallelen zu meiner Erwartungshaltung in der Kunst: Entertain me! Ich würde gerne von der Kunst unterhalten und fasziniert werden, andere von der Politik. Ich ja auch, und ich komme auf meine Kosten. Die Politik unterhält mich. Sehr schlecht und unangenehm allerdings. Es war ein eindrucksvolles Kontrastprogramm, das an diesem Sonntagabend geboten wurde, es passt so gar nicht in die Gepflogenheiten dieser Tage, und so verstehe ich natürlich die eine oder andere Enttäuschung, dass keine Fetzen geflogen sind. Wenn die Inhalte längst egal geworden sind, es geht um ganz flache Dinge nur noch.

Selbst erwischt man sich auch in der Ratlosigkeit und in der Hinterfragung seiner Tätigkeiten. Wo bleibt denn die eigene Idee? Oder ist es überhaupt in Ordnung, Defizite zu erkennen und einfach nur aufzuschreiben oder muss eine Alternative geboten werden? Erwischen wir uns da beim Österreichern? Beim einfachheitshalber Feststellen, was alles NICHT geht ohne Vorschlag zur Machbarkeit? Dafür gibt es nun doch ein paar ganz gut bezahlte Leute, denke ich, denen ein bisschen auf die Finger geschaut und auch geklopft werden darf, bekommen sie ihr Geld doch von uns. Also wäre es durchaus in Ordnung, um gleich zwei wunderbare Redewendungen aus Deutschland anzuwenden, die ich gerade gelernt habe, wenn die Protagonisten der Politikbranche, die den Kunstschaffenden das Leben zur Hölle machen, gelegentlich genordet würden und bei Bedarf auch einmal richtig zusammengefaltet. Aber das tut kaum jemand. Resignation macht sich breit.

Ganz ehrlich: Es ist höchst an der Zeit für ein paar revolutionäre Tätigkeiten. Am besten wäre ein Boykott. Ein Boykott sämtlicher Politik. Oben haben wir schon deren Territorien eingezäunt. In weiterer Folge: Keine Berichte, keine Kommentare, keine Nachrichten, Entzug jeder Bühne. Folgende kühne These stelle ich auf: Es würde sehr lange dauern, bis zumindest in Österreich das Verschwinden von Politik sich tatsächlich auf das Leben auswirken würde. Das Land läuft grundsätzlich wie geschmiert, es wird auch ordentlich geschmiert, vielleicht liefen ein paar Sachen noch geschmierter, würde aufgrund abwesender Politik weniger geschmiert. Muss woanders hin geschmiert werden, das wäre bestimmt kein Fehler, wenn das Öl nicht dorthin gefüllt wird, wo ohnehin nichts quietscht, sondern schon trieft, und tatsächlich dort die Dinge geschmeidig werden lässt, wo der Rost anzusetzen beginnt. Viel mehr wäre gar nicht zu tun. Man muss der Politik ihre Entbehrlichkeit vor Augen führen. In Österreich entsteht bei der schlichten Forderung, sich holen zu können, was einer und einem zusteht, die Angst, dass der Herrgottswinkel von Hammer und Sichel ersetzt wird, während nicht bloß Schäfchen, sondern ganze Schafherden einer winzigen und reichen Minderheit ohne Rücksicht ins Trockene gebracht werden. Eine Angstanalyse muss als erstes her. Wenn nämlich ein paar gänzlich unnütze Ängste eliminiert oder zumindest rational zugänglich und damit unwichtig gemacht werden können, kann eine interessante Reise losgehen. Rationale Analysen ließen eine Revolution unblutig vonstatten gehen, hungrige und arme Menschen könnten vollkommen nachvollziehbar etwas weniger zimperlich zu Werke gehen. Nebenbei ließe sich die Minderheit der Politiker ein wenig pisacken, so wie nicht wenige von ihnen permanent Minderheiten pisacken. Als verwöhnte und überbezahlte und gleichzeitig schlecht und nicht fertig ausgebildete Leute zum Beispiel. Als korrupte, bequeme und unbegabte Schnösel, die ohne Parteien vielleicht Mindestsicherungsbezieher wären.

Ein Panthenon aus verbotenen Büchern steht in Kassel auf einem großen Platz. Tatsächlich gibt es soviel verbotenen Literatur, aus der Türkei kommen gerade ganz viele aktuelle Werke. Die Unterdrückung indigener Völker bildet den zentralen Punkt der Documenta. Leider ist das noch nicht Geschichte, eine weitere Enttäuschung. Ich hoffe auf Venedig. Vielleicht werde ich dort so unterhalten, wie ich es gerne hätte. Die Kulisse ist besser, das Märchen der schwimmenden Stadt erhellt mein Gemüt wesentlich mehr als der Neubau einer 1943 zu 80 Prozent zerbombten Stadt. Die Anreise ist nicht so anstrengend, und der Kaffee schmeckt sogar schon auf der Autobahnraststätte hervorragend. Das Meer riecht man. Die Sprache klingt wunderbar, wobei ich festhalten möchte, dass ich deutsch genauso gerne höre. Aber meine Italienischkenntnisse sind zum Glück schlecht genug, als dass ich alles verstehen könnte. In Venedig fahren keine Autos, das ist ein Aspekt, der mich diese Stadt, oder was auch immer Venedig ist, lieben lässt. Ich überlege gerade, ob ich diese Zeilen überhaupt abschicken soll oder in eine Flasche füllen und diese in den Altglascontainer werfen, den Flaschenpostbriefkasten der Enttäuschten.