Salz im Tanz


Film als Bildertanz durch die intervalle von zeit und Raum,
gesammelt von der steirischen Kulturinitiative

Ein Karton mit Bändern in den unterschiedlichsten Videoformaten und Größen stand da vor uns. Nach Nicolas Bouvier würde ich mich nie als Chronist bezeichnen, auch war mir der japanische Ausdruckstanz fremd. Der Karton hier enthielt eine einzigartige Sammlung an Butoh-Workshops und Butoh-Aufführungen in und um Graz, eine Collection of Butoh der Steirischen Kulturinitiative über 20 Jahre.

Als die Namen der stilrichtungsweisenden ProtagonistInnen Yumiko Yoshioka und Moe Yamamoto fielen, hatten mein Cutter Peter Brandstätter und ich noch keine Gesichter der TänzerInnen vor dem inneren Auge – es waren über 40 Stunden an Videomaterial, das kopiert und angelegt werden musste. Im Filmstudio AVBaby wurden aus jedem der aufge- zeichneten Stücke Plansequenzen geschnitten und chronologisch angeordnet. Nun lag die ganze Sammlung „Butoh // Graz“ vor uns: deren Inhalt, die kritische Auseinandersetzung durch zunehmende Technisierung und Entmenschlichung. Selbst die Digitalisierungsschwemme wurde als Paradoxon kritisch entlarvt und inszeniert. Wir aber saßen im digitalen Dschungel von Timelines und Sequenzen, die sich zunächst weder reiben noch ergänzen wollten.

Butoh als Schattentanz oder gar Todesritual zu bezeichnen, lag mir fern. Zu viele lebendig prägende Geschichten tragen die vielen Facetten des Tanzes in sich. Eine davon war die Spielfilmversuchung „Kirschblüten-Hanami“ von Doris Dörrie, in der das Sterben als zentrales Thema um Fuji und Butoh angesiedelt war; nur unser filmischer Weg hier war ein um- gekehrter. Butoh kam nach Graz, um uns darauf aufmerksam zu machen, wohin Japan bereits ausgeschert war. Auch war Butoh in Japan weniger bekannt, als in den europäisch-tänzerischen Avantgardezirkeln. In einer technologisch- versiegelten Welt bekommt der Schlamm der Zeit nun eine völlig andere Bedeutung, das Licht wandelte sich beinahe in seiner reproduzierbaren Künstlichkeit zu einer dämonischen Abfolge an Irrlichtern, ebendort, wo gerade Schatten auch Schutz bieten könnte. Ohne Licht kein Schatten und umgekehrt. Ohne Leben kein Tod – keine Auferstehung.

Aus den jeweiligen Höhe- und Tiefpunkten der Inszenierungen und Choreographien wurde deutlich, dass sich Butoh jeder Art von äußerer und innerer Festlegung zu entziehen versucht. Eine Kategorie Butoh war jenseits der einzelnen Stücke und Sequenzen nicht auszumachen. So verhielt sich auch das Videomaterial zunächst eigenständig zueinander, gleich- zeitig bauten sich unsichtbare Fäden der inneren Zusammenhänge.

Die Kapitelanordnung des Filmes 1–7 drängte aus der inneren Dramaturgie der Stücke selbst und nahm ihre Vorbilder aus Filmen wie „Breaking the waves“ oder „Dreams“ – jener Kurosawa- Wunschfilm, der erst über Steven Spielbergs Finanzierung verwirklicht werden konnte. Die Kapitel bildeten das Korsett, um die Vielzahl an Tanzsequenzen aus 26 Stü- cken zu bändigen und einander zuzuordnen. Das war nun unser Spielberg. Ein japanischer Treppenschrank, ein Tansu, lieferte dabei die dramaturgische Einteilung: 7 Teile bestehend aus 7 Treppen und 7 Laden, wobei 6 Teile in den größten Teil eingeordnet werden konnten. Praktisch zu transportieren, wenn alles in einem Schrank Platz hat. So entspringt aus der Mitte des Filmes alles andere. Jedes Kapitel hat in jedem Kapitel seinen Platz und seine Entsprechung. Vor dem Tansu stand mein Freund und Tischlermeister Daniel Börner mitsamt seinem Dozuki-Japansägesatz und lieferte mir und dem Cutter den Ansatz für eine erste grobe Schnittfolge innerhalb der Montage, um zu erkennen, dass in der kühlen digitalen Welt des Studios die digitalen Späne nur so flogen.

Ein digitales Butoharchiv entstand. Es baute sich aus dem Kern der Stücke heraus. Die innerste Struktur zeugte dabei die äußere Grammatik und Dramaturgie. Schnitt für Schnitt arbeitete sich Peter Brandstätter durch das Material. Dass sich dabei das japanisch-steirische Material durch die Digitalisierung erleichtern sollte, erzählte mir schon Wim Wenders Gedankenstimme in seiner Yamamoto-Dokumentation „Aufzeichnung zu Kleidern und Städten“, in der er seine Motive für die Verwendung der neuen Digitaltechnik klarlegte. Wenders legte die 16-mm-Kamera beiseite und drehte mit der handlichen Digi-Cam in den japanischen Großstadtfluchten. Ein filmisches Neuzeitalter war angebrochen. Die Weiterent- wicklung der Digitaltechnik über 20 Jahre wird an dem Butoh-Videomaterial sichtbar, ebenso die begrenzte Haltbarkeit und Auflösungstendenzen.

Die Technisierung um das Medium Video machte, bei aller berechtigten Kritik an seiner inflationären Handhabe, unseren Film erst möglich. Dadurch rücken Sammlungen von Videomaterialien tänzerisch-leicht in ein neues Licht. Dabei ent- steht ein eigenes Genre innerhalb des Dokumentarfilmes zwischen Rebellion und Underground, wie Butoh oft bezeichnet wird. Vieles in den Stücken selbst ist dem Zeitgeist gegenläufig, erinnert an Yasairo Ozus Verwestlichungskritik und die Suche nach den alten nostalgischen Bildern – eine halluzinogene alte Pflanze, die uns in die Anderswelt führt. Die Ver- mengung der Kulturanteile und Epochen hat dabei den Ausdruckstanz über das Wort erhoben, der bewegte rebellische Körper steht dabei jenseits des Zen. Themen wie Terrorismus, Digitalisierung, Klonen, Roboter und atomare Zerstörung tauchen aus den urbanisierten Feldern und verkörpern die zunehmende Verpanzerung, Verwandlung und Versiegelung der Gesellschaft. Das, was uns den Atem und die Lebensgrundlage raubt. Das, was unser Beziehungsleben ebenso ein- schnürt. Ob die Katastrophen von Fukushima und Tschernobyl dabei ein Zentrum bilden, bleibt offen. Ob der Fudschijama über einer Nebelwolke thront, ebenso.

Dieser gerade entstandene Film hier hat als Patchwork die dramatische Struktur der Stücke selbst verlassen, ohne dabei eine Erklärung oder Anleitung abgeben zu wollen. Dieser Film entwickelt seine eigenste Choreographie. Es geht nicht darum, was Butoh sonst noch sein könnte oder wollte, wie Graz und seine Tanzgruppen diesen Butoh-Ausdruck in ihre Körpersprache hinein übersetzten. Die Synapsen der choreographischen Modelle waren ja vor Jahren gelegt worden und liegen nun im digitalen Flechtwerk Film. Die Bänder im Karton waren Zeugen genug und waren über die Jahre nur auseinandergeraten. Nun wurden sie wieder in Szene gesetzt – künstlerisch oder dokumentarisch, das lässt sich in diesen Erinnerungsbühnen nicht klar ausmachen, zu verschieden sind die einzelnen Choreographien und Bühnenbilder zuei- nander positioniert, auch wenn Strömungen wie Kanazawa oder TEN PEN CHii Art Labor ihre eigensten Kompositionen vorantreiben. Aber was wissen wir als Macher dieses Filmes schon über die Tiefe eines langjährigen Entstehungsprozes- ses, über die Grenzen und Entwicklungen innerhalb des Intervalls, in dem sich die Körper bewegen, manchmal sogar mehr als tänzerisch.

So entstand ein Film, der über uns Filmemacher bewegend hereinbricht und durch uns eben anschwillt, um über das Kaleidoskop Butoh viele Bilder in vielen Tropfen zu verlieren. Ein Tropfen besteht aus roter Tusche, aus dem innersten Herzblut von Licht, verschwommen und sich dabei in den entsprechenden Kreisläufen ständig verändernd. Die Zeit in den Kadern gerinnt dabei zu tanzenden Tropfen. Aus der Sicht der blutenden Fischaugen aus der Zukunft stockt einem dabei immer wieder der Atem. Aus der Zukunft heraus werden Stücke und Film erkannt werden müssen; und dabei sind uns dieser Film und die zugrunde liegenden Arbeiten lebendig und mehr als überlebenswichtig geworden. In diesem Meer an Bildern wird das Salz tänzerisch ohne Wasser und Tsunami auskommen. Film als Konservieren von choreographischen und prophetischen Statements. Dadurch erhält das steirische Binnenland mit einem Lidschlag eine bewegte Küste.

Norbert Prettenthaler

Veranstaltungshinweise:

Butoh Workshop: mit Yumiko Yoshioka
Theater: Feuerblau
7.Juni bis 11. Juni
Das andere Theater
Orpheumgasse 11
8020 Graz
 
Butoh / Bewegte Körper –
Metamorphose der Seele
7. Juni 20:00 Uhr
Filmpremiere
Art-Doku, 54 Min.
Filmzentrum im Rechbauerkino