Posthumaner Schneckengruß. Zu Elisabeth Klar, “Es gibt uns”


Im Prinzip bebildert “Es gibt uns” recht direkt die ethischen Konzepte und Begriffe, auf die die Autor*innen des new materialism – Karen Barad, Donna Haraway, Bruno Latour et al. – abzielen. Der Verfasserin gelingt, die bekannte wiedererkennbare Bild- und Figurenwelt jenes Diskurskosmos (in dem ja nicht umsonst u. a. von einem Chthuluzän die Rede ist) zu einem knappen, didaktischen Roman zu remixen. Sprich: es sind zunächst einmal keine Menschen, sondern es sind ca. Quallen und ca. Schnecken – und es ist diese eine ca. Hirschin-mit-Spinnensymbiont –, die da als Leute, als vollgültige Subjekte der Erzählung, ihre Stadt Anemos bewohnen. (An einer Stelle, die als comic relief zur Haupthandlung dient, flattert gar eine Subjekt gewordene Vulva auf den Schwingen ihrer Labiae durch die Lüfte, verwickelt in ein Satyrspiel inklusive priapischem Faun.) Und diese posthumanen Bürger*innen, sie gehören alle anscheinend ungefähr der gleichen Größendimension an – das muss vorausgesetzt werden, sonst ginge sich manches hier nicht aus, obwohl es in der Welt des Romans schon irreführend wäre, von Arten und Gattungen im strengen Sinn zu reden: die Ähnlichkeit im Phänotyp von Eltern und Kind sind nur eben dies: ungefähre Familienähnlichkeiten. Um das Kunststück, das Klar da gelingt, noch einmal zu betonen: sie vermag, so zu schreiben, dass wir identifikatorisch lesen, auch wenn der Protagonist des Spiels, dem wir beiwohnen, am ehesten einer Nacktschnecke gleicht, aber einer Nacktschnecke mit zusätzlich scharfen Reißzähnen sowie einigen Eigenschaften, die eher an Schleimpilze denken lassen.

Auch lenkt die profunde Fremdartigkeit der abgebildeten Welt, und die Notwendigkeit, die Regeln dieser Welt zu schildern, uns nicht von der Handlung ab. Dies hat zwei Gründe: Zum einen ist die Story selbst, eingedampft auf ihr Wesentliches, also abstrahiert von der posthumanen Spezifik, sehr unkompliziert (dazu später). Zum anderen ist die Form des Buchs jener Posthumanität punktgenau angemessen. So, wie die Figuren, um die es geht, in Donna Haraways Diktion mehr-als-menschlich sind (also charakterisiert u. a. durch einen verschobenen Umgang mit Körper- und Subjektgrenzen), so ist die Erzählstruktur post-linear, gewissermaßen fraktal:

Der Roman (also: das Geschriebene) berichtet aus wechselnder Perspektive (einmal allwissende dritte Person, dann Wirsubjekt, dann wieder Ichsubjekt) von einer ritualisierten Theateraufführung, also einer bestimmten Instanz eines festgelegten Jahreszeiten-Festspiels, das seinerseits auch auf andere Jahreszeitenfeste verweist. Innerhalb des Stücks treten nun neben (Laien-)Schauspieler*innen auch die realen Personen auf, von denen es handelt – sie führen auf, was ihnen wirklich geschah, Jahre zuvor, und begründen damit Aspekte der Machtverhältnisse in der Stadt Anemos, die bei dieser Gelegenheit zugleich auch neu ausverhandelbar erscheinen. Theaterschilderungen wie die bei Klar legen die Funktion nahe, die Theaterfestspiele wohl in den griechischen Stadtstaaten der Antike hatten – Politik war zu versinnlichen, Ideologie zu stabilisieren –, oder die Umzüge und Mysterienspiele der mittelalterlichen Städte, bei denen die gegenseitigen Abhängigkeiten der verschiedenen Stakeholder der Macht sinnlich als Funktionen der je aufgeführten Heiligenlegenden erschienen, für die kundigen Zeitgenossen ablesbar in Details der Requisite. Die Frage stellt sich auch bei dem Stück, das “zu Imbolk” in Anemos gegeben wird: Was an den Abläufen ist “bloß” “realistische” Wiedergabe des Vergangenen – sozusagen öffentlich-rechtlicher Bildungsauftrag im heidnischen Spiel –, was ist Setzung im Sinne einer Machtgeste?

Die dargebotene Story nun, wenn wir sie ungefähr auf menschliche (statt: mehr-als-menschliche) Begriffe herunterbrechen, handelt von einem Sexarbeiter – dem “Myxerl, es” – aus der Unterschicht der großen Stadt Anemos, der von einer Fraktion der Machtelite dahingehend manipuliert wird, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein, um für den sich ankündigenden Selbstmord eines bedeutenden Funktionärs – “Oberon, er” – gerade so Verantwortung zu tragen, dass jemand da ist, dem sich die für die Stadt lebenswichtige Arbeit des Funktionärs strafhalber aufzwingen lässt. Zur Schilderung dieser Palastintrige kommt noch die Geschichte der Reisen der Mutter des Myxerl durch die apokalyptische Welt außerhalb der Stadtgrenzen im Chthulu- oder Myxozän, und: kommen noch die erotischen Beziehungen der obersten Diktatorin der Stadt – “Titania, sie” – zum alten und zum neun Funktionsträger. Diese Beziehungen sind von Bedauern, Selbstmitleid, Pragmatismus geprägt, also geläufigen Machthaberemotionen in einer Klassengesellschaft.

Denn was in Elisabeth Klars Chthuluzän nicht suspendiert ist, obwohl es nicht einmal mehr klar bestimmbare Tierarten gibt, das ist die gewaltsame Klassenherrschaft. Mit der Abschaffung der Arten ist auch die eindeutige Trennung von einerseits “Subjekt” bzw. “Bürger” und andererseits “Objekt”, Ressource, Futter aufgehoben. Dies ist der unaufgelöste und mit gutem Grund unbenannte Widerspruch im Kern von “Es gibt uns”: dass es in Anemos zwar elaborierte, bindende Gesetze über Einverständnisfähigkeit gibt – consent, würden wir sagen –, dass aber zugleich einfache Stadtbewohner*innen sich auch schon mal Sorgen machen müssen, von einem*einer Mitwohner*in mit entsprechendem Stoffwechsel aufgegessen zu werden. Wir befinden uns in Anemos freilich nicht auf dem diversifizierten Niveau einer Klassenherrschaft, wie es den Kapitalismus charakterisiert, den wir unsererseits bewohnen, sondern auf dem unkomplizierten Entwicklungsstadium, das sich durch ein blankes Recht der Stärkeren charakterisiert.

Diese*r Stärkere kann dann natürlich in seiner*ihrer Domäne die Einhaltung einer Charta garantieren, und wird vielleicht seine*ihre Rolle gar nicht bewusst erstrebt oder erkämpft haben, sondern sich in ihr bloß “naturgegeben” wiederfinden. Zu so einem Setting gehört dann, siehe weiter oben, die Schwächeren mit z. B. jahreszeitlichen Ritualen bei der Stange zu halten, die das Machtverhältnis greifbar machen, Einspruchsmöglichkeit dagegen suggerieren und zugleich Emphase der Beherrschten mit den Herrscher*innen erzeugen. Der einzige Fortschritt, den Elisabeth Klars Anemos gegenüber z. B. dem europäischen Frühmittelalter mit seinen Pfingstprozessionen und Heiligenfesten darstellt, ist, dass es hier keiner Berufung auf Jenseitiges bedarf.

Die Ereignisse, die das Überleben der Herrschaftselite und, so die Suggestion, auch das Überleben der Stadt selbst sicherstellen, und die das Jahreszeitenspiel immer wieder erneut sichtbar geschehen lässt – sie sind wirklich und nicht ausgedacht. Die Spieler*innen selbst können glaubhaft bezeugen, dass sie wirklich dabeigewesen sind. Metaphysik ist hier in der Tat sistiert – Titania und Myxerl sind physisch zugegen, sie verkörpern die Ideologie, die sie dem Volk vorführen, tatsächlich, und stehen für nichts jenseits ihrer selbst (nicht einmal für ihre eigenen vergangenen Selbst-e, denn die Frage, die im Spektakel zu verhandeln ist, ist ja, wie sie sich jetzt tatsächlich verhalten werden). Das Objekt des Affekts im Spiel und das Objekt des politischen Interesses in der Wirklichkeit sind identisch – new materialism indeed.

Elisabeth Klars Roman ist als Kunstwerk unhintergehbar. Dasjenige, was es an ihm auszusetzen gäbe, ist vollumfänglich den Theoretiker*innen des Chthuluzän/Myxozän anzulasten. Klars große Leistung als Autorin besteht dabei darin, eine sinnlich plausible Form zu ersinnen, in der die Grundlagen, die zentralen Fragestellungen und Denkbilder jener Theoriebewegung exemplarisch durchexerziert werden können. Es ist ihr zu wünschen, dass der Roman schon bald ins Englische übersetzt werde und als belletristische Einführung zu Barad et al. in breiten Gebrauch komme. Schon allein, weil “Es gibt uns” ungleich unterhaltsamer zu lesen ist als die Bücher von Barad, Haraway, Latour.

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Elisabeth Klar: Es gibt uns. Salzburg: Residenz 2023. € 24,67, 160 Seiten, gebundenes Buch. ISBN 978-3-7017-1769-9

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