Erinnerungen


Als unglaublich spannend empfinde ich Momente, in denen mich ein Geruch binnen Sekundenbruchteilen an einen ganz eindeutigen Ort führt, zurück in die Kindheit oder Jugend. Es muss nichts wiederhergestellt werden, es fühlt sich an wie eine Reise im Zeitraffer, und wurde eine Jugend halbwegs glücklich verbracht, ist die Erinnerung auch soweit meist in Ordnung, immer aber beeindruckend. Wie schnell eine Ortung passiert, wie schnell eine Szenerie vor dem geistigen Auge aufscheint. Als hätte man ein digitales Koordinatensystem im Kopf, dass auf Gerüche reagiert. Grundsätzlich habe ich Erinnerungen an meine eigene Arbeit, zum Beispiel 2019, weiß ich Bescheid. Die Projekte habe ich in Erinnerung, viele Gespräche dazu auch, vor allem entscheidende. 2018 auch noch, teilweise detailliert. Die Jahre zuvor sind nachvollziehbar außerhalb von E-mails.

Zur Zeit macht sich in unserem kleinen Land das bange Gefühl breit, dass der Verlust vieler schöner Dinge und mannigfaltiger Erinnerungen ein wenig in Verlust gerät. Ein Film, von dem die Nation begleitet wird wie Schuppenflechten von schlechter Ernährung, wird gerade mit ein paar anderen Ereignissen, wie soll man es bezeichnen, eingehender beleuchtet. Nein, er möchte eingehender beleuchtet werden, aber das Licht geht nicht an. Es wirkt wie eine kaputte Neonröhre, die gelegentlich kurz aufblinkt, und es wird alles daran gelegt, den Elektriker davon abzuhalten, die Röhre zu tauschen. Das ging jemandem völlig berechtigt ziemlich auf die Nerven und veranlasste beim Denken und Fühlen zu einer Bemerkung in einem Moment, da der Elektriker den Strom noch nicht abgedreht hatte und das Mikrofon den Ärger in die Welt hinaus spülte. Das bewog den Dirigenten zur Feststellung, dass die Diskussionskultur einen Tiefpunkt erreicht hätte. Er erwähnt großzügigerweise, dass sich ein Befragter sich viiiiieleicht etwas geziert hätte. Ohne lange herum zu schwadronieren schlage ich diesem Mann vor, schnell wieder hinters Dirigentenpult zu klettern, Musik zu machen, und sein eigenes schlechtes Benehmen würde allen erspart bleiben.

Nachdem seit geraumer Zeit keine Diskussionskultur mehr zu finden ist, stellt sich die Frage, wo ein Tiefpunkt liegen könnte. Ich glaube nicht, dass im Rahmen der Untersuchungen – jetzt dämmert langsam die Erinnerung an den richtigen Begriff für die ständigen Treffen, zu welchen viele Leute vorgeladen werden und manche sich schmeichelhaft “eingeladen” fühlen – viel zu diskutieren wäre, aber es fühlt sich viel mehr an wie ein heiteres Beruferaten, nur ohne Robert Lembke, heiter nur für die Befragten, und die Sparschweine werden immer voll. Auch wenn hundert Fragen gestellt werden dürften, das Frageteam errät nie, welchen Beruf die Kandidaten haben. Und nein, kein Schweinderlwitz.

Frei nach Thomas Klestil, dessen finstere Miene zum Beispiel unvergesslich bleibt, als er die erste schwarzblaue Erfolgsgeschichte unterschreiben hat müssen, sehe ich “mit großer Sorge” grobe Mängel in der Erinnerungskultur Österreichs. Es gibt bereits mehrere Sorten von Erinnerungskultur, die eine betrifft das Langzeitgedächtnis, das gerne gelöscht worden wäre und unangenehmerweise wie ein Bumerang in die Nation einschlug, als ein vergesslicher Mann erst recht zum Vorgänger Thomas Klestils gewählt wurde und dem kleinen Land hervorragende internationale Reputation brachte. Dieses Erinnerungskulturkonzept ist nicht aufgegangen. Nun erfahren wir eine neue, umfassende Erinnerungskultur, die das Kurzzeitgedächtnis beziehungsweise dessen Mängel uns vor Augen führt, wie schnelllebig unsere Zeit geworden ist.

Im Detail müssen diese Mängel nicht beleuchtet werden in der ganzen Geschichte um den tollen Film von Ibiza, in dem die Lichttechniker einen etwas fragwürdigen Job machen. Es stellt sich lediglich die Frage, wie wir, das Fußvolk, diese Lücken einordnen sollen, und wie wir es ausdrücken dürfen, ohne ausfällig zu werden, um an besagte Befragende zu erinnern, welcher die Elektriker einen Hauch zu spät den Saft abgedreht haben. Müssen wir Mitleid haben mit ihnen? Mir täte jemand jedenfalls aufrichtig leid, könnte er sich so schlecht an Dinge erinnern, die eigentlich gerade erst stattgefunden haben, dass er knapp hundert mal eine Frage mit den Worten quittieren muss, dass er keine Erinnerung habe, zum Beispiel einen tragbaren Computer besessen zu haben, obwohl er selbst Bilder von sich mit einem solchen auf seinen eigenen Accounts diverser sozialer Medien sogar mit Stolz gepostet hat, weil er so fleißig ist.

Was nützt also bloß der Fleiß, wenn das Gehirn hinterher hechelt wie ein alter fetter Mops einem Blatt Wurst in der Sommerhitze? Der Fleiß hilft insofern, als zumindest genau Bescheid gewusst wird um die Trägheit des Volkes, das dem erwähnten dicken Mops gleich dem Blatt Wurst nicht hinterher hecheln muss, weil die Wurst gesichert ist und alles andere egal. Alten Menschen wird sofort Alzheimer diagnostiziert, wenn sie zweimal hintereinander vergessen, wo die Bestecklade in der Küche ist – im Vergleich zu manchen Fragen im, im, jetzt fällt mir endlich das Wort wieder ein, das mir entfallen ist, weil diese Veranstaltung, die da läuft, nicht wirklich an einen Untersuchungsausschuss erinnert, aber es heißt wirklich Untersuchungsausschuss, also im Vergleich zu manchen Fragen dort ist das mit der Bestecklade höchst kompliziert. Eine eigene Bestecklade wurde rechtzeitig zum Altmetall gebracht, und damit bei der Wiederverwertung auch keine Komplikationen auftauchen, wurde das Besteck zwei mal kleingeschreddert, der umweltbedachte Mitarbeiter wurde zur Belohnung für einen falschen Namen und die Vergesslichkeit beim Bezahlen der Müllentsorgung befördert, das hat er sich redlich verdient.

Wenn wir vom Mitleid absehen, könnte Staunen eine weitere Reaktion sein, mit welch dummen Menschen die Nation seine Regierung bestückt hat, die sich die einfachsten Sachen nicht merken können. Wie sieht es dann überhaupt mit komplexeren Sachverhalten aus? Es erhärtet sich die Vermutung, dass der Chef dieser Regierung nicht so langsam und in einfachen Sätzen spricht, damit es alle verstehen, sondern damit er es selber so halbwegs begreift, weil verschachtelte und komplexe Sätze schwieriger zum Auswendiglernen sind. Gleichzeitig meinen wir uns in einer Zeit zu befinden, in der die mediale Kompetenz oberstes Credo zu sein scheint, und dann erinnern sie sich nicht daran, mit welchem Werkzeug, mit dem sie sich noch dazu selber fotogen flächendeckend verbreiten, sie sämtliche Medien bedienen.

Was wir uns aber wirklich sparen können ist der Blick in die Ferne. Wo wir vermeintlich uns in einer medialen Wohlfühloase heimisch fühlten, schleicht sich Ungarn ein, wenn wir uns an – unter anderen – bestätigte Interventionen erinnern wegen unangenehmer Berichterstattung nach einem Besuch in einer Tiroler Alpenenklave. Das Vorführen des Rechtsstaats und dessen Verhöhnung à la Trump? Können wir selber, kann uns niemand was vormachen. Wir brauchen schon lange über niemanden mehr in der Nachbarschaft oder Ferne lachen. Wir brauchen die blaue Narrenversammlung schon längst nicht mehr, wer unbedingt blaue Politik haben möchte, die auf die Grundpfeiler einer solidarischen Gesellschaft pfeift, ist mit der Partei der kollektiven türkisen Arroganz und Vergesslichkeit bestens bedient.

Und so ergeben sich neue Gerüche, die unvergesslich bleiben. Wenn wir am schönen Stephansdom vorbei spazieren, stehen Pferde, vor schöne Kutschen gespannt. Sie sehen gut aus, stehen in gelben Pfützen und riechen nicht gut dabei, aber der Schein wird gewahrt. Es ist die perfekte Verbindung aus Folklore und Gegenwart. Abgestanden. In diesen Pfützen haben sie das Niveau der Kommunikation versenkt. Sie selbst. Niemand sonst. Es stinkt widerwärtig und ist so banal.

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