Diese Rezension wird erscheinen, wenn es das Stück, das in ihr besprochen werden soll, für’s Erste nicht mehr live in Graz zu sehen geben wird. Das ist schade, aber es ist eine unvermeidlicher Effekt dessen, was ich die verschwenderische Ader des zeitgenössischen Musikbetriebs nennen möchte. Nina Šenks Oper “Canvas”, uraufgeführt am 08. 10. dieses Jahres im MUMUTH beim musikprotokoll als das Preisträgerwerk des Johann-Joseph-Fux-Opernwettbewerbs, hätte mehr Aufführungen durchaus hergegeben, bzw. wäre sich selbst noch als Repertoirestück ganz komfortabel ausgegangen, wie ich denke. Nur vier Abende sind für den betriebenen Aufwand nicht viel (wenn auch das Verhältnis zwischen Gesamtkosten inkl. Personenstunden und Besucher:innenzahlen wohl immer noch deutlich günstiger ist als bei ähnlichen Produktionen an der Staatsoper, aber was sagt das schon). Eigentlich wäre es natürlich egal – eine Gesellschaft, die sich einen Karl Mahrer als nicht amtsführenden Wiener Stadtrat leisten kann, wird sich gefälligst auch leisten können, Kunstprogramm für die Geschmacks- und Diskursnischen ordentlich zu alimentieren.
Aber “Canvas” müsste eben, und das ist mein Punkt dabei, kein solches Nischenprogramm sein, obwohl das Stück der doppelten Nischengattung der (1) zeitgenössischen (2) Oper angehört, für kleines Ensemble und (wenn ich richtig gezählt habe) sieben Sängerinnen. Mitnichten bleibt Šenk hinter den kompositorischen Möglichkeiten des einundzwanzigsten Jahrhunderts zurück, obwohl die Musik der Oper nicht auf sich aufmerksam macht, sondern gänzlich auf das Erfüllen ihrer dramatischen Funktion ausgerichtet ist – das Erzeugen einer unhintergehbaren, außeralltäglichen Intensität, die uns emotional und intellektuell punktgenau für das verhandelte Thema öffnet.
Der gleiche Sachverhalt lässt sich auch als vorsichtige Kritik formulieren; in dem Sinne, dass die schiere Komposition für sich allein wenig dramaturgische Dynamik habe – sie erzeugt wie gesagt Intensität, und da hängt diese dann als akustischer Goldgrund über und hinter den Körpern und Stimmen der Sängerinnen, und fertig –, aber im Gesamtzusammenhang des Bühnengeschehens kommt die Dynamik eben anderswoher, und ist dann deswegen nicht weniger dynamisch. Die nur-musikalische Dimension des Werks leistet aber außerdem noch etwas anders, und zwar das Auslegen von harmonischen context cues – nicht eben direkten Zitaten aus der Musik des neunzehnten Jahrhunderts, zumal der italienischen Oper, aber doch sozusagen kleinen Öffnungen des unmittelbaren zeitlichen und dramatischen Raums auf einen größeren Referenzraum hin, welche verdeutlichen, dass wir all das Geschehen auf der Bühne, seiner narrativen Substanz nach, hier nicht zum ersten Male sehen und hören – sehr wohl aber um ersten Mal von dieser Warte aus mitempfinden.
Inhaltlich nämlich handelt es sich um eine Umkehrung der Don-Juan-Erzählung/en: Wir hören und sehen vier ineinander verwobene Frauenmonologe, die (wie wir weder gezwungen noch abgehalten werden, uns zu denken) von dem selben Mann handeln; von Varianten dessen, was es bedeuten könnte, zu lieben oder sich zu sehnen; und zwar zu lieben oder sich zu sehnen als materiell abhängige Frau – was einst sicherlich eine Tautologie war und inzwischen, vielleicht, mit viel Glück, in manchen Weltgegenden, keine Tautologie mehr sein muss; und die offene Frage, ob und unter welchen Bedingungen dies gilt oder nicht, ist die Leerstelle oder Wunde im Zentrum des Stücks.
Will sagen, erzählt wird stets auch von dem Machtgefälle zwischen den Sprecherinnen und diesem Mann, diesen Männern.
Šenk folgt hierin, wie uns das Programmblatt des musikprotokolls beauskunftet, einer literarischen Vorlage ihrer slowenischen Landsmännin Simona Semenič, die auch das Libretto verantwortet, und montiert die Abfolge der Erzählungen um das Sterben einer der Protagonistinnen im Krankenhausbett herum. Gern wüsste man, ob die Anordnung derjenigen in Semeničs Urtext entspricht oder, den musikalischen Anforderungen entsprechend, für die Oper geändert wurde.
Sparsam inszeniert, und wie gesagt auf intensive Musik mit wenig dynamischem Potential aufgetragen (die darin der titelstiftenden Leinwand – “canvas”, auch die ein aufgespanntes Gewebe notwendig gleichförmiger Fäden – gut entspricht), lebt Šenks Stück in den Stimmen seiner Sängerinnen. Sie halten – hielten zumindest bei der Aufführung im MUMUTH – die narrativen Stränge und ihre Stimmungen für das genauere Zuhören unterscheidbar, während sie zugleich “im Ganzen” die These von der Gleichförmigkeit, tendenziell gar Austauschbarkeit unterstreichen, zu der patriarchalische Zurichtung das weibliche Erleben und Begehren verurteilt: wenn wir empathisch hören, erscheinen die Differenzen – wenn wir distanziert, “musikalisch” hören, dann sehen wir uns einem Oratorium gegenüber – wiederum einem “Gewebe”, einer “Leinwand”.
Passenderweise markiert der einzige Moment, an dem das sich die eben ausgebreitete Formbestimmung der Musik von Nina Šenk ändert, auch den einzigen Moment in der Erzählhandlung von “Canvas”, über die sich kontrovers reden lassen muss. Denn am Höhepunkt der Handlung, etwa in der Mitte der zweiten Hälfte, verstummen die Instrumente völlig, und das Narrativ ist an dem Punkt angekommen, wo es auf die eindringliche Schilderung jenes Falls von sexualisierter Gewalt hinausläuft, den das Publikum von Anfang an kommen sehen konnte: die Sprecherin der Figur, an der sich das Zerstörungswerk vollzieht, erzählt in die Stille hinein ins Publikum.
Anders als so ginge das in diesem Kontext gar nicht; auch ist die Drohung des Mannes (jedes Mannes) mit Vergewaltigung eine dauernde, unausgesprochene Präsenz in “Canvas”, von Anfang an; dennoch und zu Recht reißt einen das Ereignis völlig aus dem kontemplativen Musikgenuss raus. Die Wahrnehmungsebene, auf die es zumindest mich statt dessen zwingt, ehe die Musik wieder losgeht, ist ein Hinhören und -schauen auf den Rest der Darbietung wie von einem fahrenden Karussell halbfertiger Gedanken aus:
Ob das, so oder so, nämlich überhaupt “geht”, denn immerhin handelt es sich, wie entfernt von Quotenerwartungen immer, bei dieser Oper da um Kunst, also um Unterhaltung bzw. Dekoration von Lebenszeit – und mit der reflektierten Ausschilderung sexualisierter Gewalt Kunst (also Unterhaltung) zu generieren, hieße ja quasi, Spaß dran zu haben. – Dagegen aber: Es ist halt ein notwendiger Teil dieser Erzählung, und nicht nur dieser, sondern auch so vieler anderer auf uns gekommener Stories; und immerhin konnten alle die Generationen von Caravaggio an herauf das Thema durchaus neben den anderen ganz unkompliziert verwenden, ohne sich anzuscheißen; überhaupt: Was täten wir mit Artemisia Gentileschis Werk, wenn nicht usw.? – Dágegen aber hinwiederum: Da läge eben Kunst (also Unterhaltung) aus ganz anderen Denk- und Empfindungswelten vor, und es sei zugleich möglich, zu formulieren, dass die Gedanken und (moralischen) Empfindungen, die jene Welten konstituierten, unseren aufgeklärten(!) gegenüber wirklich und tatsächlich inferior gewesen seien und, dass wir an die Künste jener anderen Epochen nicht die ethischen Maßstäbe der unseren anlegen dürften, weil sonst nichts G’scheites übrigbleibe. Woraus und woraufhin die beiden widerstreitenden Stimmen in mir, noch vor Schlussapplaus zu “Canvas”, zu diesem gemeinsamen Ende kamen:
Auf sicherem Boden in der künstlerischen Verarbeitung sexualisierter Gewalt werde sich vermutlich bewegen, wer an jenen Stellen im Werk, wo es ans sog. Eingemachte geht, einfach gar nichts Zeitgenössisches mehr komponiert, darstellt, schreibt, sagt, malt – weder was popularkulturell Ausgemaltes noch betriebskünstlerische Komplexitäten. Statt dessen, so schien mir da, stünden wir im Fortgang der ethischen und stilistischen Entwicklungen derzeit an einem Punkt an, der es vernünftig erscheinen lässt, wenn wir sexualisierte Gewalt in den Werken je bloß als solche benennen, als etwas, das jenseits des Rahmens der Werke stattfindet, und wenn die Darstellung unvermeidlich wird, als Platzhalter eines der erwähnten klassischen Gebilde der letzten Jahrtausende einsetzen; dem Gesichtsschleier des Propheten in der Mughal-Kunst ähnlich; einfach:
Erstmal keinen Spaß mehr mit dem Thema, auch keinen solchen Spaß mehr, der ganz ernst gemeint ist; kein Ausweichen vor dem Fakt, das künstlerische Arbeit derzeit gar nicht anders kann, als auch Deko zu sein, egal, wie integer die Arbeitenden … wir zeigen ja auch keine echten Drohneneinschläge mit Toten und Verletzten im Hintergrund von Marvel-Superhelden-Tschinnbumm-Filmen, oder?
…
So zumindest ging das Karussell meiner Gedanken angesichts der kreativen Entscheidungen in Nina Šenks Oper “Canvas”, und vielleicht habe ich damit sogar Recht, was den “sicheren Boden” betrifft. Šenk und ihre Librettistin (von ihren Sängerinnen ganz zu schweigen) ging es offenbar um mehr als solchen sicheren Boden. Sie haben den verlassen. Mit eindrucksvollen und zwingenden Ergebnissen. Wenn ein Musikverlag sich des Stücks annimmt, oder es wieder wo aufgeführt wird, ist es unbedingt zu empfehlen.