Enttäuscht II


“Nein! Wenn ich ein echter Seher wäre, hätte ich vorhergesehen, dass ihr eine VII würfelt, dann hätte ich VIII gesagt, denn dann hättet ihr mich nicht für einen Seher gehalten, weil ihr ja eine VII gewürfelt habt und keine VIII.” Diesen Satz sagt ein Scharlatan namens Lügfix, dem gerade zum Verhängnis wird, sich als Seher ausgegeben zu haben. Leider hatte er einmal, ein einziges Mal, die richtigen Zahlen, nämlich V und II, vorausgesagt, als ein Zenturio ihn dazu auffordert. “Der Seher” ist wohl eines der Meisterwerke des grandiosen Geschichtenerzählers René Goscinny in der Sammlung der Asterix-Bände. Es zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie leicht verführbar die Menschen sind – und welchem Unsinn sie plötzlich Glauben schenken.

Legt man den Satz um auf eine politische Ebene, würde es etwa so klingen: “Nein! Wenn ich ein ernst zu nehmender Politiker wäre, dann hätte ich doch vor der Wahl nur einen Bruchteil davon versprochen, was auch ernsthaft umsetzbar wäre, denn dann hättet ihr mich für einen realistisch und rational denkenden Menschen gehalten, der anscheinend nicht mehr auf die Reihe bringt als diesen Bruchteil, und nicht die ganze Reihe an Weihnachtsgeschenken, die nie und nimmer erfüllbar sein kann.” Nachsatz in der Gedankenblase: ‘Und ich weiß, dass ihr mich erst wählt, wenn ich euch Vollidioten das Blaue vom Himmel herunter erzähle.’

In der Zwischenzeit sind wir nicht nur in einer endgültigen Scheinpolitik angekommen, sondern tatsächlich attackiert nun die noch wertlosere Cyber-Politik zumindest mein ganz echtes visuelles, akustisches und dreidimensionales Leben. Inhalte sind nicht nur längst nicht mehr da und werden vermisst, es hat sich alles völlig losgelöst von jeglicher Greifbarkeit. Alles ist möglich, nichts mehr ist da. Dirty Campaigning passiert seit Jahrzehnten, die FPÖ würde ohne Dreckschleuder gar nicht existieren. Es ist auch nicht lange her, dass die ÖVP eine ganze Broschüre in Papier in die Welt gesetzt hat, in welcher sie die SPÖ mitsamt den Grünen quasi des Kommunismus bezichtigt hat. Ist das nichts? Bemerkenswert, dass die SPÖ gerade vor dem Wahlgang so einen Mist veranstaltet, Antisemitismus ist in welcher Form auch immer das Allerletzte und Dümmste, und wer auch immer das angerichtet hat: Es gibt so etwas wie einen Selbstbehalt, ganz werden sie es also nicht den bösen Unbekannten zuschieben können. Die Sägen sind schon wieder weggeräumt, es braucht für das Ästchen, auf dem die Partei für die Wahlen sitzt, wohl nur noch den Nagelzwicker.

Wir alle sind Seherinnen und Seher. Leider wird es uns so einfach gemacht. Alle Befürchtungen, die wir vorausgesehen haben, treten auf rücksichtsloseste Art und Weise ein. Zumindest bei mir tritt dieser Fall ein. Wiglaf Droste war kürzlich im Radio zu hören, es war eine erfrischende Stunde. Er erzählte von einer wunderbaren Szene, der er in einem öffentlichen Verkehrsmittel beiwohnen durfte. Dabei erklärte eine junge Frau ihrer Freundin – beide hatten ihre Wurzeln möglicherweise etwas weiter südlich, und wie das korrekt heißt wusste Droste nicht und pfiff vergnüglich darauf -, die gerade umfangreich jammerte, sie wäre “voll die Opferin”. Droste meinte, “…und da beschweren sich manche Deutsche, dass die nicht deutsch könnten, so ein Blödsinn!” Ich pflichte Wiglaf Droste bei: Eine großartige Wortschöpfung!

So also sind wir Seherinnen und Seher gleichzeitig Opferinnen und Opfer kassandranischen Ausmaßes, und zwar in Anbetracht der Ereignisse, die im Rahmen des Wahlkampfes geschehen. Vieles, was bisher vermutet wurde, wird nun bestätigt. Das ist nun nicht weiter verwunderlich, da sich viele Vermutungen längst eindrucksvoll erhärtet und bestätigt haben. Es verwundert nur, dass sich viele Parteien nicht zu eitel oder eben dumm genug sind, so viel Schmarren zu verbreiten.

Es war beim besten Willen nicht zu erwarten, auf eine Enttäuschung eine weitere formulieren zu müssen, den zweiten Teil quasi, weil der erste nicht ausgereicht hat, obwohl schon ganz unten angekommen. Nein, es geht noch weiter, imposant wird es uns vor Augen geführt. Breit und wie ein nicht aufzuhaltendes Gallert verschlingt die B-Moll von Frederic Chopins Trauermarsch das Land. Aus, fertig, vorbei. Wir schalten Fernsehen und Radio ein, und das zentrale Thema ist eine Auseinandersetzung über irgendwelche bescheuerten Webseiten irgendwo im Cyberspace, die ein paar unterbelichtete, aber hervorragend bezahlte Dummköpfe angelegt haben. Auf der Uhr ist es gerade 11.11, der Fasching hat längst begonnen, den 11.11. brauchen wir nicht mehr.

Nun: Jammern hilft niemandem weiter. Aber wo bleiben die Konsequenzen? Die Enttäuschung beruht gar nicht mehr an den Ereignissen, die gerade und schon immer passieren, sondern vor allem darin, dass sie ganz bestimmt weiterhin in aller Formlosigkeit und Unart existieren werden als Scheinpolitik, und zwar in größtmöglicher Blüte. Die Taktik ist perfekt: Es wird alles lackiert, perfekt ausgeleuchtet und inszeniert, das lenkt wunderbar ab von Sätzen wie jenem, der dem schwarz-türkisen Außenminister nach dreimaligem Nachfragen zu entlocken war, und auch da hat er ihn nicht selbst gesprochen, sondern nach der Vorformulierung der fragenden Journalistin mit “Natürlich!” beantwortet. Die Frage war, ob unter seiner möglichen Kanzlerschaft denn die Sozialpartnerschaft zerschlagen werden könnte. Dieses “Natürlich!” ist bedrohlich, und kaum jemand nimmt wahr, was alles mit einer Zerstörung einer Sozialpartnerschaft einhergehen wird. Es weiß auch kaum jemand, was der Begriff überhaupt bedeutet, es wäre lediglich verheerend spürbar, gäbe es sie plötzlich nicht mehr – bei aller berechtigter Kritik an ihr. Bereits jetzt, mit der Sozialpartnerschaft als Korrektiv, ist die Gesellschaft weit entfernt von einer gerechten Verteilung der Ressourcen. Man möchte sich nicht ausmalen, was los ist, wenn dem Recht der Stärkeren endgültig wieder zum Durchbruch verholfen wird. Nichts anderes wollen die beiden rechten Parteien, die sich kurioserweise zur Zeit gegenseitig rechts überholen. Von einer Mitte ist keine Spur mehr, die ist durch den gesamten Rechtsruck von der einst linken Seite besetzt worden, und die – siehe Nagelzwicker.

Was das Interesse der rechtsaussen stehenden Fraktion am kleinen Mann betrifft, hat sich das mit der schlichten Ablehnung von Mietobergrenzen, als kleines Beispiel, bewiesen. Der kleine Mann interessiert diese Leute, die der AfD zu ihrem Wahlsieg herzlich gratulieren, einen feuchten Kehricht. Allein die Begeisterung für die AfD sollte zu denken geben, aber was in diese Richtung noch alles möglich ist, will ich gar nicht so genau wissen.

Ohne zu dramatisieren: Anscheinend wiederholt sich Geschichte in Variationen immer wieder, und gerade in diesen Zeiten stellt sich die Frage besonders intensiv, da durch die globale Digitalisierung Geschichte, ihre Ereignisse und deren Folgen jederzeit und überall abrufbar sind, warum das so sein muss. Weil eben, wie in unserer Witzeseitenrepublik und seinem Witzeseitenwahlkampf, der Cyberspace genau die Blödheit wiedergibt, die den Leuten, die Computer und das Netz füllen, zu eigen ist. Und sie dominieren offenbar diesen Raum. Dort scheint schon das meiste Terrain an den Mob verloren gegangen zu sein, schauen wir, dass das im echten Leben nicht auch passiert. Schauen wir, dass die Enttäuschung eine vorübergehende bleibt. Sollte es tatsächlich Konsequenzen geben, müssten die drei momentan stimmenstärksten Parteien zusammen auf gerade einmal 30 Prozent kommen, wie sich der Rest verteilt wäre egal. Diese Prognose ist wahrscheinlich nicht viel weiter daneben als die Umfragedaten und Prognosen der letzten Wahlen. Dass diese Institute es überhaupt noch wagen, Prognosen abzugeben, ist bewundernswert.

Eine Enttäuschung ist wenigstens absolut. Wenn ich ein echter Seher wäre, wüsste ich, dass ich mich nicht einmal als solcher in diesen grauenhaften Entwicklungen auch nur irgendwie zurechtfinden kann, schösse sämtliche taktische Überlegungen in den Wind und machte dort ein Kreuz, wo es keine Enttäuschungen geben kann.